Dienstag, 7. August 2007

Die heilende Bambusnadel der Zazen-Praxis (Zazenshin)


Im alten China wurden Bambusnadeln in der Heilmethode der Akupunktur verwendet. Sie mussten genau an der richtigen Stelle am Körper angesetzt werden, um die gute Heilwirkung zu erzeugen. Dôgen vergleicht in diesem Kapitel (Kap. 27) des Shôbôgenzô die Übungspraxis des Zazen mit diesen heilenden Bambusnadeln in der Akupunktur und umreißt damit nicht nur die allgemeine Heilwirkung des Zazen, sondern auch, wo und wie genau die „Bambusnadel“ angesetzt wird. Er hält es darüber hinaus für ausgeschlossen, dass man überhaupt Zugang zum wahren Buddhismus findet, wenn man nicht Zazen (in Sanskrit Samadhi) praktiziert. Um richtige und wirkungsvolle Akupunktur ausführen zu können, bedarf es einer sehr gründlichen Ausbildung und genauer theoretischen Kenntnis der geeigneten Körperstellen und dann muss vor allem das praktische Können des Heilenden bei der Akupunktur hinzukommen, damit die gute Heilung wirklich möglich wird.
Zunächst erklärt Dôgen anhand eines bekannten Gesprächs zwischen dem großen Meister Yakusan und einem Mönch, dass die Praxis des Zazen etwas anderes als das übliche Denken ist und über das Denken hinausgeht. Auf die entsprechende Nachfrage des Mönchs antwortet der Meister:

"Zazen ist das wahre Denken im Zustand des Nicht-Denkens, es ist das Nicht-Denken. Man sitzt dabei ruhig wie ein Berg und das (übliche) Denken und Fühlen sind verschwunden".

Dann ereignet sich bei der Zazen-Praxis die erste Erleuchtung, wie der große lebende Meister Nishijima dies nennt. Wenn man aber während des Zazen den Willen hat, etwas Bestimmtes zu erreichen und damit Denken und Fühlen in diese Ziel-Richtung antreibt, kann sich die Zazen-Praxis überhaupt nicht entfalten. Dann kann sich die erste Erleuchtung gar nicht ereignen! Beim Zazen kommt es also darauf an, sich nicht durch eine bewusste Denkanstrengung einzuengen oder sogar zu verkrampfen. Dôgen stellt uns hierzu die Frage:

"Wie kann es möglich sein, dass in dem ganz ruhigen stillen Zustand kein Denken vorhanden ist und warum verstehen (die Menschen) nicht den still-ruhigen Zustand jenseits (von Denken und Nicht-Denken)?"

Beim stillen, ruhigen Zustand der Zazen-Praxis müssen wir genau auf die richtige körperliche Haltung achten und den Kopf nach oben strecken, dann erscheint das Nicht-Denken. Dieser Zustand und dieses Handeln im Zazen sind sogar jenseits der Verstandestätigkeit eines Buddha, des Dharma, jenseits aller intellektuellen Möglichkeiten, der Vorstellung der Verwirklichung und des intellektuellen Verstehens. Dies wird durch die unmittelbare Übertragung des Dharma mit Körper und Geist vom Meister auf den Schüler, der damit ebenfalls Meister wird, ausgedrückt.
Es ist aber falsch zu sagen, dass das ganz bewusste Ziel des Zazen darin besteht, diese Ruhe des Geistes zu erlangen. Das wäre wieder eine falsche Konzentration auf ein bestimmtes Ziel, es greift zu kurz und wäre ein grundsätzliches Missverständnis. Dies würde den Geist einengen und wohl nur illusionäre Zustände und Traumvorstellungen erzeugen. Es wäre kein Nicht-Denken. Genauso falsch ist es zu sagen, dass die Zazen-Praxis für die Anfänger und auch fortgeschrittenen Schüler des Buddhismus zwar notwendig sei, dass die Meister selbst aber nicht mehr Zazen praktizieren müssen. Bei den Meistern, so die falsche Begründung, seien nämlich alle Tätigkeiten des Alltags wie Gehen, Stehen, Liegen, Sitzen usw. bereits buddhistische Übungspraxis. Genauso sei es Teil dieser Praxis, sich zu unterhalten, sich auszuruhen, sich zu bewegen usw. und bei allen diesen Tätigkeiten fühlte sich der Meister glücklich und frei, weil er ja schon erleuchtet sei. Leider, so fügt Dôgen bedauernd hinzu, sind manche Nachfolger von Meister Rinzai dieser irrigen Ansicht.
Zazen Praxis bedeutet dagegen Buddha-Handeln, ohne sich mit dem Ziel anzustrengen, selbst Buddha werden zu wollen. Buddha-Handeln übersteigt das vorgefasste Ziel, ein wunderbarer Buddha werden zu wollen und Buddha-Handeln ist schon selbst die verwirklichte Welt und das verwirklichte Universum. Wenn man mit Gewalt ein Buddha werden will, verstrickt man sich automatisch sofort in gedanklichen „Netzen und Käfigen“, und die Kraft des Augenblicks der Zazen-Paxis verschwindet und kann sich überhaupt nicht entfalten.
Dôgen gibt hierzu das berühmte Gespräch der beiden Meister Nangaku und seines Schülers Baso wieder. Nangaku fragt Baso, als dieser noch Mönch unter seiner Leitung war:

"Was möchtest du erreichen, und welches Ziel hast Du, wenn du Zazen praktizierst?"

Aber gibt es aus der Erfahrung von Dôgen überhaupt ein Ziel, das höher zu bewerten ist als die Zazen-Praxis selbst? Sicher nicht. Dôgen wiederholt immer wieder, dass Zazen keinem willensmäßigen Ziel dienen darf, sondern Handeln und Zustand beim Streben nach der Wahrheit für sich selbst ist, das sich selbst vollständig genügt. Man kann sagen, dass es sich gewissermaßen ereignet, wenn man einmal die richtige Sitzposition eingenommen und Körper und Geist "fallen gelassen " hat.
Dôgen fragt weiter, ob es jemals einen sinnvollen Bereich der Wahrheit gegeben hat, den man als Ziel angestrebt hat, der jenseits des Sitzens im Zazen liegt. Welches Ziel wird genau in dem Augenblick, in dem man Zazen praktiziert, überhaupt verwirklicht? Ein solches vorgestelltes Ziel und ein solches auf das Ziel fixierte Denken wäre dasselbe wie das magere Abbild eines Drachens im Verhältnis zum wirklichen Drachen. Ein solches Denken und die Verengung auf Ziele würden die unmittelbare Kraft und Fülle der Gegenwart des Zazen im Hier und Jetzt weitgehend zunichte machen. Der Geist würde wegwandern in weit entfernte gedachte Räume und Zeiten und wäre nicht im Hier und Jetzt anwesend. Die gut gemeinte idealistische Absicht, ein Buddha zu werden, würde den Menschen in sich selbst verstricken und verhaken und die wahre Zazen-Erfahrung könnte sich im gegenwärtigen Augenblick nicht ereignen und verwirklichen. Gleichwohl sollte man die Absicht des Mönchs Baso nicht gering schätzen, denn der starke Wille zur Wahrheit und zum Weg des Buddha-Dharma haben einen zentralen Stellenwert im Shôbôgenzô. Ohne das Streben nach der Wahrheit kann man im Hin und Her des täglichen Lebens kaum je die wahre Richtung finden, all die vielen eigenen menschlichen Irrtümer aufdecken und die häufigen Sackgassen nicht zuletzt im sozialen Zusammenleben vermeiden.
In der obigen Geschichte ergreift Meister Nangaku dann einen in der Nähe liegenden Ziegel und schleift ihn an dem dort vorhandenen Felsen, anstatt seinem begabten Schüler eine Antwort zu geben, so als ob er ihn polieren wolle. Auf die Frage des Mönchs Baso, was der Meister mit dem Schleifen des Ziegels denn eigentlich wolle, antwortet dieser:

"Ich poliere ihn, um einen Spiegel aus ihm zu machen".

Als der Mönch verwundert fragt, wie man denn aus einem Ziegel einen Spiegel fertigen kann, antwortet Meister Nangaku, dass dies genauso unmöglich sei, wie sich durch das zielbezogene Sitzen im Zazen zu einem Buddha zu machen. Was will diese berühmte Koan-Geschichte uns damit sagen?
Meister Nishijima lehrt, dass die richtige Zazen-Praxis bereits selbst die erste Erleuchtung ist und dies gilt sowohl für den Anfänger wie für den Fortgeschrittenen und auch für den Meister. Es bedarf also keiner weiteren Absichten und Ziele, wenn Körper und Geist die richtige Haltung im Zazen einnehmen, sondern dieses Handeln ist selbst in sich schon vollkommen. Man kann nichts hinzutun oder wegnehmen. In der ersten Erleuchtung ereignet es sich dann bereits, und dann ist man Buddha! Dies ist die Bedeutung des absichtslosen Sitzens. Wenn man mit aller Gewalt die Erleuchtung anstrebt oder die Gedanken und Gefühle herumwandern lässt, wird aber genau diese Wirkung der richtigen Zazen-Praxis verfehlt. Dabei ist es sinnlos, mit Worten über Illusion und Verwirklichung zu diskutieren, und auch das intellektuelle Streben nach einer vollständigen Erklärung und logischer Zergliederung des Zazen führt nicht weiter. Es ist jedoch sehr wichtig, dass die richtige Zazen-Praxis direkt und unmittelbar vom Meister auf den Schüler übermittelt wird. Dôgen schließt diesen Teil des Kapitels mit der Feststellung ab, dass bereits damals und seit alten Zeiten nur wenige Menschen wissen, dass Zazen diese großartige Übungspraxis ist. Nur dann heilt die Zazen-Praxis wie eine Bambusnadel in der Akkupunktur!
Für Dôgen ist die richtige Körperhaltung bei der Zazen-Praxis eine notwendige Voraussetzung für die buddhistische Übung und den Weg des Buddha-Dharma. Er verwendet dabei das Gleichnis von einem Ochsenkarren: Alle denken, dass man den Ochsen antreiben oder gar schlagen müsse, wenn das Gefährt stehen bleibt und nicht mehr weiter vorankommt. Der Ochse ist dabei das Symbol für den Geist, der den Wagen ziehen soll. Aber sehr häufig ist der Wagen selbst die Ursache für den Stillstand und dieser ist das Symbol für den Körper. Damit spricht Dôgen die Funktion des Körpers bei der Zazen-Praxis an und kommt zu dem Schluss, dass Körper und Geist immer eine Einheit bilden und nicht getrennt werden dürfen, auch und gerade beim Zazen. Bei der Zazen-Praxis wird die einseitige Konzentration auf den Geist abgelehnt, denn sie ist eine Sackgasse. Es mag zwar eigenartig erscheinen, dass man nach der obigen Geschichte den Wagen schlägt und nicht den Ochsen. Vielleicht ist es allerdings im Ganzen wenig sinnvoll, wenn man entweder den Geist oder den Körper oder sogar beide schlägt. Dem kann man sicher zustimmen.
Aber auch der Stolz auf die einseitige eigene körperliche Haltung führt nicht weiter. Wer sich selbst großartig in seiner Zazen-Haltung findet und meint, damit sei er ja schon als echter Buddhist ausgewiesen und sei nach Dôgen bereits Buddha, ist schon in der Sackgasse gelandet. Wer den vollen Lotus-Sitz so wunderbar beherrscht und dies stolz den anderen oder sich selbst zeigt, ist tief in einem solchen Irrtum verstrickt. Auch der Stolz darauf, längere Sitzperioden auszuhalten zu können als die meisten, verhindert die natürliche Öffnung von Körper und Geist. Dies ist sicher der falsche Weg.
Am Ende fügt Dôgen sein eigenes Gedicht über die Bambusnadel der Zazen-Praxis (Zazenshin) an, das Ähnlichkeiten mit einem von ihm hoch geschätzten bereits vorhandenen Gedicht hat und sein eigenes tiefes Verstehen des Buddhismus und der Übungspraxis widerspiegelt:

"Das wesentliche Handeln eines jeden Buddha.
Das Handeln des Wesentlichen eines jeden Vorfahren im Dharma.
Es verwirklicht sich nicht im Denken,
Es verwirklicht sich nicht im Komplizierten.
Es verwirklicht sich nicht im Denken,
Sondern zeigt sich auf direkte und natürliche Weise.
Es verwirklicht sich nicht im Komplizierten,

Sondern ereignet sich als natürliche Erfahrung.
Es zeigt sich auf direkte und natürliche Weise.
Niemals wurde es beschmutzt.
Es ereignet sich als natürliche Erfahrung:
Niemals gab es (im Zazen) Richtig und Falsch.
Was sich unmittelbar zeigt, wird niemals beschmutzt.
Die Unmittelbarkeit hängt von nichts ab, und doch ist sie Befreiung.
In der Erfahrung gab es niemals Richtig und Falsch.
Die Erfahrung ist ohne Absicht und doch ist sie Anstrengung.
Das Wasser ist rein bis zum tiefsten Grund,
Die Fische schwimmen im (Wasser) als Fische.
Der Himmel ist weit als klares Firmament.
Die Vögel fliegen im Himmel als Vögel.“

Für weitere Informationen bitte anklicken:

Allgemeine Richtlinien zum Zazen von Meister Dôgen (Fukan-Zazen-Gi)

Die buddhistische Praxis des Zazen

Die erste Erleuchtung