Montag, 19. November 2007

Der Alltag im Hier und Jetzt


Die Übereinstimmung von buddhistischer Lehre und buddhistischem Handeln ist im Shobogenzo von Meister Dôgen ein häufig wiederkehrendes und ganz zentrales Thema. Wenn sich religiöse und spirituelle Verkrustungen entwickelt haben, ist eine solche Übereinstimmung von Lehre und Handeln kaum noch möglich.

Auch der ostasiatische Buddhismus ist in der Tat nicht frei davon, dass äußerliche Zeremonien und bis ins Feinste festgelegte Handlungsabläufe sich verselbständigen und vom religiösen wirklichen Erleben abtrennen. Eine ähnliche Fehlentwicklung kann leicht entstehen, wenn asketische Bestrebungen überhandnehmen und extreme Beanspruchungen des Menschen eine scheinbare Dichte und Kraft des Erlebens und Erfahrens signalisieren, aber in Wirklichkeit keine lebendige innere Freude, Kraft und Klarheit vorhanden ist. Deshalb stellt Meister Dôgen die Bescheidenheit und Einfachheit auch so sehr in den Mittelpunkt und warnt uns immer wieder vor Ruhm und Selbstgerechtigkeit und aufgeblasenem Verhalten, und sei es durch perfektes Beherrschen von Ritualen.

In diesem kurzen, aber wichtigen Kapitel (Kap. 64, Kajo) erläutert Dôgen im Einklang mit seinem eigenen Lehrer Tendo Nyojô die Bedeutung des täglichen Handelns, die vom Buddha-Dharma durchdrungen ist und mit der großen Ruhe und Klarheit des buddhistischen Gleichgewichts vollzogen wird. Dieses Gleichgewicht wird bekanntlich bei der Zazen-Praxis im Hier und Jetzt besonders gut erlernt und strahlt dann auf unser ganzes Leben, also auch auf unseren Alltag, aus. In einem solchen freudigen und klaren Gleichgewicht bekommt jedes Handeln im Alltag gewissermaßen einen neuen Glanz und eine neue Tiefenschärfe und offenbart uns zugleich das Wunder der Menschen, Natur, der Welt und des Universums. Wir mögen es vielleicht zunächst seltsam finden, dass Dôgen hier sagt, der Buddha-Dharma sei die Verwirklichung beim „Teetrinken und Essen der Mahlzeiten“, also bei Handlungen des Alltags im Leben der Menschen. Er zitiert einen alten Meister:

"Der Sinn der Worte der Buddhas und Vorfahren ist wie der tägliche Tee und die Mahlzeiten. Gibt es außerdem noch etwas anderes, mit denen die Buddhas und Vorfahren die Menschen lehren oder nicht?"

Diese Lehren finden meist ohne Worte statt, aber sie werden über die alten Meister berichtet und in so fern ist die Sprache wiederum erforderlich, um solche Lehrinhalte überhaupt weiter zu geben. Dôgen sagt dazu wörtlich:

"Daher solltet Ihr darauf vertrauen, dass der Sinn der Worte der Buddhas und Vorfahren ihr täglicher Tee und ihre Mahlzeiten sind und Ihr solltet dies bewahren. Die Buddhas und Vorfahren bereiteten den Tee und die Mahlzeiten und der Tee und die Mahlzeiten tragen und erhalten die Buddhas und Vorfahren. "

Dôgen betont immer wieder, wie wichtig das Handeln selbst ist, sodass er auch hier hervorhebt, dass sich der Buddha-Dharma verwirklicht, wenn wir Tee trinken und Mahlzeiten essen. Indem er diese Aussage auch umgekehrt verwendet, sagt er, dass der Buddha-Dharma auch davon getragen wird, dass wir gemeinsam Tee trinken und gemeinsam essen und in eine Gesamtsituation der Klarheit und Lebensfreude eingebettet sind, die Dôgen an anderer Stelle als das "Etwas" bezeichnet. Wir können daher auch sagen, dass sich das Teetrinken ereignet und das "Etwas" dabei vorhanden ist, wenn wir unsere Mahlzeiten im Sinne der buddhistischen Lehre zu uns nehmen. Diese einfachen Handlungen strahlen Ruhe und Zufriedenheit aus, sind nicht von Gier, Ungeduld und Hektik gesteuert, sondern es ist einfaches Handeln je im Hier und Jetzt.
Er berichtet von seinem eigenen Meister Tendo Nyojô, der gefragt wurde:
"Was ist etwas Wunderbares? " und dieser antwortete:

"Es sind meine Essschalen aus (meinem früheren Kloster Joji), die ich jetzt in diesem (Kloster) Tendo zum Essen benutze.“

Dôgen sagt dazu:
"Es ist für jeden Menschen wunderbar, die Mahlzeiten zu essen. Allein auf dem großen und erhabenen Berg (eines Klosters) zu sitzen, ist also nichts anderes als eine Mahlzeit zu essen."

Man muss wissen, dass die Klöster im alten China meistens in besonders schönen Landschaften im Gebirge standen und man sicher leicht ins Schwärmen kommen konnte, dort auf einem erhabenen Gipfel des Berges zu sitzen, die Täler und Flüsse unter sich zu sehen und sich von romantischen Gefühlen forttragen zu lassen. Dies ist aber keineswegs ganz im Sinne von Meister Dôgen, der immer wieder auf das einfache Handeln im Hier und Jetzt zurückkommt und in diesem Kapitel über den Alltag herausarbeitet, dass der Buddha-Dharma Teetrinken und das Einnehmen von Mahlzeiten ist und darin eine tiefe Befriedigung liegt. In dem täglichen Handeln des Alltags, wenn wir uns waschen, wenn wir essen, wenn wir Tee trinken usw. kann eine ausgezeichnete Schulung zur Einfachheit und Ehrlichkeit enthalten sein. Dôgen zitiert hier wieder seinen eigenen Meister:

"Wenn der Hunger kommt, esse ich und wenn die Müdigkeit kommt, schlafe ich. Der Schmiedeofen (einer solchen Praxis) reicht bis zum Himmel."

Er beschreibt also die Übung im Alltag als einen Schmiedeofen, in dem das Metall so weit erhitzt wird, dass es geschmiedet werden kann und zu einem Gebrauchsgegenstand oder einem Kunstwerk umgeformt wird. An anderer Stelle wird das Beispiel des Metalls z. B. verwendet, um den ewigen Spiegel (intuitiver Geist) zu schmieden oder eine Statue Buddhas herzustellen. Damit werden bei Dôgen hier nicht die rituellen Handlungen, das Zitieren heiliger Verse oder die Konzentration auf ein religiöses Bild in den Mittelpunkt des Buddha-Dharma gerückt, sondern das Handeln des Alltags wird als Schmiedeofen auf dem Buddhaweg bezeichnet. Das ist in der Tat verblüffend einfach, zumindest auf den ersten Blick.
Dass man schläft, wenn man müde ist, sollten wir im obigen Zitat nicht so verstehen, dass man sich hängen lässt und schlapp ist, auch nicht, dass wir uns mit dem Geist in eine Müdigkeit hineindenken oder sie uns einreden, weil wir zu bequem sind, bestimmte Dinge des Alltags zu tun. Es geht vielmehr sicher um die Müdigkeit nach einem erfüllten Tag des "Handelns und Geschehen-Lassens." Die häufige Gier nach ausgewähltem Essen und Leckereien ist vermutlich auch nicht im obigen Zitat angesprochen, denn sie würde gerade den Geist verdunkeln und einengen und man könnte die "kraftvolle Energie des Essens der Mahlzeiten" nicht verwirklichen.
Die Handlungen des Alltags vollziehen sich immer im Hier und Jetzt. Dies klingt einfach und selbstverständlich, ist es aber in Wirklichkeit überhaupt nicht. So zitiert Dôgen am Ende dieses Kapitels einen berühmten Ausspruch:

"Hier ist der Ort, wo etwas (Unfassbares) existiert."

Das Hier und Jetzt können wir also nur richtig erleben und erfahren, wenn wir ein hohes Maß an Freiheit von vorgefassten Meinungen, von abstrakten Denkgebäuden und eingeprägten künstlichen Bildern haben, wenn wir genau das wahrnehmen, was direkt vor uns ist, aber gleichzeitig dieses große "Etwas" anwesend ist und mitschwingt. Dôgen beendet dieses Kapitel wie er angefangen hat:

"Kurz gesagt, ist der Alltag der Buddhas und Vorfahren nichts anderes als Tee zu trinken und Mahlzeiten zu essen. "