Donnerstag, 17. Januar 2008

Die große intuitive Weisheit, die das Denken überschreitet

Meister Dôgen beschreibt im zweiten Kapitel des Shôbôgenzô "das Pâramitâ der großen Weisheit" (Makahannya haramitsu), also an herausgehobener Stelle ganz am Anfang, seiner umfassenden Lehre des Buddhismus das berühmte Sutrâ, das mit den Begriffen "Form und Leere" verbunden ist.
Peter Gäng nennt in seinem Buch über den Buddhismus Prajnâ die Weisheit, die über das Denken hinausgeht. Es gibt zu diesem Thema etwa vierzig einzelne Sutrâ, unter denen das Herz-Sutrâ das kürzeste, aber wohl auch das aussagekräftigste ist. Das Herz-Sutrâ wird in den Gruppen der meisten ostasiatischen Traditionen regelmäßig zitiert und hat eine herausragende Bedeutung.

Pâramitâ bedeutet in Sanskrit das „Erreichen des anderen Ufers“, also das Erwachen und das Überschreiten des üblichen Denkens und der gewöhnlichen Wahrnehmung, wobei beides meist bekanntlich mit mehr oder minder starken Emotionen verbunden ist. Prajnâ wird auch oft mit dem Begriff der Leerheit (Shûnyatâ) des Mahâyâna-Buddhismus verbunden und wurde vor allem von dem großen Meister Nâgârjuna ausgearbeitet. Die Leerheit hat häufig zu erheblichen Missverständnissen bei den Anhängern, aber vor allem auch bei den Feinden des Buddhismus geführt, weil sie meist mit der Vorstellung des Nihilismus und der Ablehnung von Vernunft und Logik verbunden wird. Dies ist aber grundsätzlich falsch.

Prajnâ bedeutet vielmehr die Weisheit, die das normale Denken überschreitet, die also Qualitäten unseres Geistes bezeichnet, die beim linearen Denken und der Trennung von Subjekt und Objekt nicht zum Zuge kommen. Ich selbst habe das Herz-Sutrâ immer wieder zitiert und hatte zunächst erhebliche Mühe, überhaupt den Sinn zu verstehen, besonders weil es am Schluss heißt, dass dieses Sutrâ mit seiner Kraft "alles Leiden wegnimmt". Wie kann man das Leiden überwinden, wenn es heißt: "Form ist Leere und Leere ist Form"? Das war mir völlig unklar. Nishijima Roshi sagt in der Einführung zu diesem Kapitel:

"Prajnâ wird intuitiv und unmittelbar erfahren, wenn Körper und Geist im Zustand des Gleichgewichts sind und Zazen ist die Übungspraxis, durch die Körper und Geist in diesen Zustand gelangen. So ist das Pâramitâ der großen Weisheit die Essenz des Zazen."

Er verwendet für den Begriff der Leerheit häufig den Zustand des ganzheitlichen Gleichgewichts von Körper und Geist, also des ganzen Menschen und auf keinen Fall nur seines Verstandes.
Dôgen beginnt dieses Kapitel wie folgt:

"Wenn der Bodhisattva Avalokiteshvara das tiefgründige Prajnâ-Pâramitâ praktiziert, reflektiert der ganze Körper, dass die fünf Komponenten des Menschen (Skanda) vollständig leer (also im Gleichgewicht) sind",

und Nishijima Roshi erläutert hierzu sein erstes Grundprinzip, dass man bei der Zazen-Praxis erfährt, „ dass das ganze Universum so ist, wie es ist". Die fünf Komponenten des Menschen und der Welt (Skanda) sind nach der altindischen Lehre: Körper (Form), Sinne (Wahrnehmung), Denken, Handeln und Bewusstsein. Beim Zazen werden bekanntlich das Denken und die Wahrnehmung überschritten, sodass sich das Bewusstsein ganz für das Hier und Jetzt öffnet und den Stress, die Gedanken und aufgeladenen Gefühle abschüttelt. Dies wird mit dem Begriff „Leerheit“ bezeichnet: Man ist leer von den üblichen Gedanken und Gefühlen. Damit hat der Begriff der „Leerheit“ eine ähnliche Bedeutung wie bei uns im Westen die „Freiheit“, allerdings in einem umfassenden spirituellen Sinn. Nishijima Roshi erklärt hierzu gern, dass auch gerade das vegetative, also autonome Nervensystem, im Zazen im Gleichgewicht ist und dass sich dadurch ein ausgeglichener, ruhiger Zustand einstellt. Es gibt dann im Bewusstsein keine Störungen und dadurch wird das Universum so erfahren, wie es ist. Damit ergibt sich eine weitgehende Identität von Leerheit, Zustand der Zazen-Praxis, Gleichgewicht und Soheit (es ist, wie es ist). Dôgen sagt zu den Begriffen von Form und Leerheit über das bekannte Zitat hinaus, dass die Form auch die Form selbst und die Leerheit auch die Leerheit selbst ist. Auch dadurch wird die Soheit von beiden noch einmal betont.

Ich hoffe, dass diese Ausführungen nicht allzu verwirrend sind; wichtig ist dabei, dass es sich um die übergreifende Weisheit jenseits des üblichen Denkens handelt, die nach der Lehre des Buddhismus sich in der Zazen-Praxis beim Menschen unmittelbar im Hier und Jetzt ereignet.
Eine solche intuitive grenzüberschreitende Weisheit ist bei den fünf Komponenten des Menschen (Skanda) auch für die Wahrnehmung wirksam. Ein erwachter Mensch haftet bei der Sinnes-Wahrnehmung, zum Beispiel beim Sehen, dann nicht mehr an der äußeren Form und an der Trennung von Subjekt und Objekt, sondern übersteigt diese.

Die Wahrnehmung wird nach altindischer Tradition mit den sechs Formen der Sinne und den jeweiligen Objekten erfasst. Auch die berühmten vier edlen Wahrheiten werden durch die intuitive Weisheit (Prajnâ-Pâramitâ) durchdrungen. Dasselbe gilt für die überlieferten sechs Arten des Bodhisattva-Handelns: Freizügiges Geben, Einhalten der Gebote, Geduld, Ausdauer, Meditation und Samâdhi. Dôgen ergänzt dann die Verwirklichung im gegenwärtigen Augenblick und fügt auch die drei verschiedenen Arten der Zeit, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinzu.
Auch die altindischen Arten der Materie: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum sowie die vier Tätigkeiten des Alltags werden durch die große intuitive Weisheit erfasst, durchdrungen, und dadurch wird das herkömmliche Denken überschritten.

Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, sich die Herkunft des Sanskrit-Begriffes Shûnyatâ zu vergegenwärtigen: Nach Auskunft von Peter Gäng wurde kurz vor der Zeitenwende von indischen Mathematikern, die damals führend in der Welt waren, die Null im gesamten Zahlensystem von positiven und negativen Zahlen entdeckt. Die Null heißt auf Sanskrit Shûnyatâ. Die wichtigste Bedeutung liegt darin, dass die Null in der Mitte zwischen den positiven und negativen Zahlen angeordnet ist und sozusagen das Gleichgewicht und die Funktionsfähigkeit des gesamten Umfangs des Zahlensystems ermöglicht. In der gleichen historischen Zeit wurde im Buddhismus von mehreren großen indischen Meistern der Mahâyâna intensiv entwickelt, der wohl durch Meister Nâgârjuna seinen Höhepunkt und seine goldene Zeit erreichte. Dieser verwendete für die Kennzeichnung des Mittleren Weges, also des Gleichgewichts, vor allem den Begriff Shûnyatâ und hat dies im "Gesang des Mittleren Weges" (abgekürzt MMK) einzigartig beschrieben. In älteren buddhistischen Lexika wird Nâgârjuna immer noch als Nihilist bezeichnet, der angeblich durch den Ansatz von Shûnyatâ alle Logik und alles Denken außer Kraft setzen und eine Auflösung im „Nichts“ lehren würde. Dies ist aber sicher unrichtig, denn es geht um die intuitive, das Denken überschreitende Weisheit, die in der Praxis des Zazen erfahren wird.
Nishijima Roshi hat zuweilen den Eindruck, dass die intuitive Weisheit und überhaupt die Intuition im Westen nicht sehr geschätzt sind. Oft wird ein Gegensatz von rationalem Denken und Intuition behauptet und diese sei ein Bereich der Esoterik und der Mystik, wobei beides in eher abwertendem Sinn gemeint ist. Dies ist m. E. abwegig. Eine derartige intuitive Klarheit ist dagegen im Gleichgewicht des Zazen und beim täglichen Handeln möglich und führt auch zu ganz klaren Entscheidungen in existenziellen Situationen, die vom denkenden Verstand niemals vollständig durchdrungen werden können.
Dôgen zitiert dann einen Mönch des Ordens von Shakyamuni Buddha,

"der für sich dachte: stets werde ich mich ehrfürchtig vor dem tiefen Prajnâ-Pâramitâ verneigen".

Nishijima Roshi erläutert dies und erläutert Meister Dôgens Gedanken, dass das äußerlich nicht erkennbare, aufrichtige Verhalten des Mönchs die Weisheit Prajnâ selbst ist und dass diese sich in seiner achtungsvollen Verbeugung offenbart. Dôgen sagt wörtlich:

"Denn genau in diesem Augenblick der Verneigung verwirklicht sich (die Weisheit) Prajnâ, dass durch die Gebote das Gleichgewicht und die Weisheit bis hin zur Erlösung aller Wesen erklärt und verstanden werden kann."

Dies bezeichnet Dôgen auch wie folgt ": "Es ist, wie es ist", und damit ist die Soheit ohne irgendwelche Verzerrungen und Zusätze, also die Wirklichkeit der Welt und des Universums selbst gemeint.
Dôgen gibt für die Untersuchung des Prajnâ-Pâramitâ das Gleichnis des Raumes an und lässt den Schüler Gautama Buddhas zum Gott Indra sagen:

„Hochverehrter Indra, wenn die Bodhisattva Mahasattvas das tiefe Prajnâ-Pâramitâ erforschen wollen, sollen sie es wie den Raum erforschen. Der Raum ist im jetzigen Augenblick allgegenwärtig, und in gleicher Weise existiert das Prajnâ im ganzen Universum. So kann die Vorstellung des Raumes das intuitive Verstehen von Prajnâ erleichtern und dies ist möglich, wenn wir im gegenwärtigen Augenblick das Gleichgewicht verwirklichen.“

Auf die folgende Frage des Gottes Indra, wie man die intuitive Weisheit beschützen kann, antwortete der Mönch Subhuti, dass das Prajnâ-Pâramitâ beschützt wird, wenn die Menschen es leben und lehren. Und Nishijima Roshi fügt hinzu:

"Daher kann ein Mensch Buddha genannt werden, der immer den Zustand des Gleichgewichts aufrechterhält".

Im Buddhismus wird nach Dôgen dieses Prajnâ empfangen, bewahrt, gelesen und rezitiert und er sagt weiter, dass man
"mit Einsicht darüber nachdenkt".
Schließlich zitiert Meister Dôgen Shakyamuni Buddha, der zu seinem Schüler Shariputra unter anderem sagt:

"Die höchst verehrten Buddhas sind Prajnâ-Pâramitâ. Warum sage ich dies? Ich sage es Shariputra, weil der richtige, wahre und ausgeglichene Zustand der Wahrheit, den alle Tathâgatas haben, sich immer durch das Prajnâ-Pâramitâ offenbart“.

Wenn die Formen und das Materielle im Sinne der intuitiven Weisheit gesehen und erfahren werden, können sie im Zustand des Gleichgewichts als leer von allen Ideologien und Begierden bezeichnet werden. Sie sind dann so, wie sie sind. Dies kann zum Verständnis der berühmten Aussage: "Form ist Leerheit, Leerheit ist Form" beitragen. Es darf sich jedoch nicht allein auf das verstandesmäßige Denken verengen, denn es geht um die große intuitive Weisheit.