Montag, 5. Mai 2008

Der ganze Körper des Tathâgata und das Lotos-Sûtra

In China und Japan wurden die Reliquien und Gebeine der Heiligen und großen Meister hoch verehrt. Für diese wurden besondere Gebäude errichtet, die als Stûpa bezeichnet werden. Oft gab es sogar größere Mengen dieser Gebeine, die von den lebenden Buddhisten achtungsvoll in verschiedene Zeremonien einbezogen wurden und in vielfältigen Formen, zum Beispiel mit Musik, Wimpeln, Fahnen, Perlenketten, Blumengirlanden usw. geehrt wurden.

Pagode im Kloster Tokein
In diesem Kapitel (Kap.71, Nyorai zenshin) erläutert Dôgen, dass für ihn der Körper von Gautama Buddha, der auch Tathâgata genannt wird, das ganze Universum umfasst. Die große Wertschätzung und Ehrerbietung gebührt nicht nur den Gebeinen Buddhas und der Heiligen, sondern dem ganzen Universum, also seinem Körper. Dies ist in der Tat die aussagekräftige und weit gefasste Lehre des Buddhismus, die auch die sogenannte belebte und unbelebte Natur wie Berge und Wasser umfasst. In einem anderen Kapitel heißt es zum Beispiel, dass die Bäche und Flüsse die Zungen Gautama Buddhas sind, die uns den Dharma ohne Unterbrechung lehren, und dass die Berge sein Körper sind. Damit wird die Trennung von Mensch und Natur aufgehoben.

Diese ist vor allem nicht der Gegner des Menschen, der uns mit seiner Gewalt und unberechenbaren Wucht Angst einflößt. Aber die Natur dient auch nicht nur der romantischen oder gar sentimentalen Erbauung, die in der neuen Zeit als Konsum organisiert ist und mit dem „normalen“ Handeln der Menschen im Alltag nichts zu tun hat. Beide Formen der verengten Beziehung zur Natur sind bekanntlich im Westen häufig anzutreffen, und dabei überwiegt wohl heute die romantische Komponente. Im Mittelalter stand eher die Angst einflößende Urgewalt von Katastrophen und Hungersnöten im Vordergrund. Als Goethe zum Beispiel das erste Mal den höchsten Berg im Harz, den Brocken, bestieg, galt dies als außerordentlich gefährlich und waghalsig. Dies nicht zuletzt, weil dort böse Mächte hausen sollten, die zusammen mit den Naturgewalten für den Menschen äußerst gefährlich seien. Die Katastrophen der Natur dienen heute als Bilder in den Medien mehr der Zerstreuung und Sensationslust und helfen, die geistige Langeweile vergessen zu machen.
In diesem Kapitel beschreibt Dôgen nicht nur die Einheit des Universums mit Gautama Buddha, sondern preist die Sûtras, also die schriftlichen Überlieferungen der buddhistischen Lehre, außerordentlich. Er sagt, man solle diese tief verehren und für sie Stûpas bauen, während die Gebeine und Knochen der Heiligen demgegenüber weniger aussagekräftig sind. Dies ist eine verblüffende Wahrheit, denn welche Reliquien wären wertvoller als die buddhistischen Schriften selbst? Damit gibt er einen wesentlichen Inhalt des Lotus-Sûtra wieder. Er kannte dieses sehr gut, da er als ganz junger Mönch in ein Kloster der Tendai-Linie eintrat, die es als wesentliche Grundlage der buddhistischen Lehre ansieht und es außerordentlich schätzt.
Dôgen zitiert am Anfang dieses Kapitels Shakyamuni Buddha aus dem Lotus-Sûtra :

"An jedem Ort wo (dieses Lotus-Sûtra) gelehrt, gelesen, rezitiert und niedergeschrieben wird und wo die Bände dieses Sûtras aufbewahrt werden, sollten wir einen Stûpa der sieben Juwelen errichten. Es ist nicht notwendig, die Gebeine darin aufzubewahren. Warum? (Weil) sich in diesem Stûpa bereits der ganze Körper des Tathâgata befindet."

Er zählt die verschiedenen Formen der Ehrerbietung und Zeremonien für die Ganzheit von Stûpa, Sûtra und dem Körper Gautama Buddhas auf: Blumen, Düfte, Perlenketten, seidene Baldachine, Fahnen, Flaggen, Musik und Lobgesänge. Er empfiehlt den Menschen, sich vor dem Stûpa niederzuwerfen und auf diese Weise die eigene hohe Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen.
Dôgen verdeutlicht, dass das Lesen, Rezitieren und Niederschreiben des Sûtra mit ganzem Herzen und in der ganzen Wirklichkeit der Einheit von Mensch und Universum geschehen solle. Denn

"die Bände des Sûtras sind nichts anderes als die wirkliche Form (des Universums)."

Er arbeitet heraus, dass die Schriften der Sûtras der ganze Körper des Tathâgata sind und dass dieser eine wunderbare Einheit mit dem Universum sei.
In der Tat ist es eine ganz wichtige Aussage, dass die überlieferten schriftlichen Formen der buddhistischen Lehre, also die Sûtras, von höchster Bedeutung für die buddhistische Lehre und deren Weitergabe von einer Generation zur anderen sind. Demgegenüber sei die Verehrung der Gebeine der Heiligen oft allein im Ideellen und Spirituellen angesiedelt. Sie kann sogar als Flucht aus dem Alltag in eine heile spirituelle Welt verstanden werden. Der Alltag ist in der Tat oft durch mühsames Handeln und schwieriges Überleben gekennzeichnet. Eine solche Flucht entspricht aber keineswegs dem Zen-Buddhismus, der die Einheit der Praxis, des Alltags und der Theorie lehrt und sie als unteilbar versteht.

Dôgen schätzte das Lotus-Sûtra außerordentlich. Dabei ist jedoch zu betonen, dass er eine neue buddhistische Tiefe und Wirklichkeit offen legte. Die Wunder und mystischen, märchenhaften Begebenheiten, die im Lotus-Sûtra geschildert werden, sind für ihn weniger wichtig. Er gibt ihnen eine neue umfassende buddhistische Bedeutung. Dieses Sûtra ist für ihn die buddhistische Realität selbst. Sein großartiges Verständnis hat er in dem Kapitel "Die Dharmablume dreht die Blume des Dharma (Hokke ten hokke) niedergelegt, das zweifellos zu den großartigsten Texten des Shôbôgenzô gehört. Leider gleichen die verfügbaren westlichen Übersetzungen meist wirklichkeitsfremden Wunderbüchern, in denen scheinbar die Naturgesetze außer Kraft gesetzt werden. Damit wird der höchste Zustand im Buddhismus aber falsch verstanden und dargestellt, weil dieser gerade das Vordringen zur Wirklichkeit bedeutet. Diese ist in der Tat das größte Wunder.
Dôgen sagt, dass die verschiedenen Bereiche der Verehrung von Blumendüften, Perlenketten, Lobgesängen usw. sowohl himmlisch als auch konkret sind, und er nennt dies "ausgewählt". Er wiederholt noch einmal:

"Wir sollten den Stûpa errichten, aber es ist nicht notwendig, Gebeine darin aufzubewahren, denn es ist klar, dass die Bände des Sûtras selbst schon die Gebeine und der ganze Körper des Tathâgata sind."

Im Lotus-Sûtra wird die hohe Bedeutung dieser Lehre betont und die großartige Wirkung beschrieben, die bereits von einem einzigen Wort dieses Textes ausgeht, wenn man es rezitiert, anderen vorträgt oder abschreibt. Wenn man sich vor den Stûpas und den Sûtras niederwirft, sei man in unmittelbarer Nähe des höchsten erwachten Zustandes, der auf Sanskrit Anuttara-samyak-sambodhi heißt. Dies werde "die vollkommene Nähe" genannt. Er betont, dass es wichtig sei, dieses Sûtra hier und jetzt zu empfangen, zu bewahren, zu lesen, zu rezitieren, zu erklären, auszulegen und niederzuschreiben. Wenn man sich vor den Bänden des Sûtras niederwirft und es verehrt, sei dies dasselbe, als wenn man sich vor Gautama Buddha selbst niederwirft. Es ist gleichzeitig die höchste Verehrung für die Wirklichkeit des Universums, das alles umfasst.

Dôgen sagt nichts anderes, als dass die Knochen und Gebeine, die häufig verehrt werden, und die Bände des Sûtras eine Einheit bilden und dass sie außerdem der ganze Körper Gautama Buddhas sind. Er verwendet dafür die zunächst schwer verständliche Formulierung:

"Es gibt die Knochen des Löwen, es gibt die Knochen eines Buddhas aus Holz, es gibt die Knochen eines Buddha-Bildnisses und es gibt die Knochen des Menschen. Dies alles sind die Bände des Sûtras."

Er geht damit über die materielle konkretistische Vorstellung der Knochen als Reliquien hinaus, indem er sie als Gleichnisse für die Bände der Sûtras versteht. An anderer Stelle betont Dôgen, wie wichtig die Lehre für den Weg des Buddhismus ist. Er grenzt damit sein eigenes Verständnis von Strömungen im Zen-Buddhismus ab, welche die Lehren, Theorien und schriftlichen Texte als unwichtig ablehnen oder sogar als gefährlich und irreführend bezeichnen. Gleichwohl ist die Übungs-Praxis und das Handeln im Alltag für Dôgen von zentraler Bedeutung und er betont auch in diesem Kapitel die ausdauernde und viele Zeitalter währende Übungspraxis von Gautama Buddha selbst. Er zitiert noch einmal das Lotus-Sûtra:

"Ich habe gesehen, (wie) Shakyamuni Tathâgata während endloser Weltzeitalter durch harte Praxis und schmerzhafte Übung Verdienste ansammelte und Tugend anhäufte und wie er auf dem Bodhisattva-Weg niemals innehielt."

Dies heißt, dass die Übungspraxis auch für die Vorfahren im Dharma und Gautama Buddha selbst niemals aufhört, also immer weiter geht und dadurch eine nicht unterbrochene Weiterentwicklung ermöglicht. Dies hat Dôgen eindrucksvoll in einem anderen Kapitel "Die Weiterentwicklung nach demErwachen" ausgebreitet. Er tritt damit vordergründigen Behauptungen von selbst ernannten Meistern entgegen, die uns weis machen wollen, dass sie nach der großen Erleuchtung keine weitere Übungspraxis mehr ausführen müssen. Am Ende des Kapitels sagt er, dass Gautama Buddha

"noch kraftvoller praktizierte, als er die Buddhaschaft bereits erlangt hatte und dabei immer noch weiter vorangeht. Dies ist das kraftvolle Handeln des ganzen Körpers."