Dienstag, 20. Mai 2008

Die Natur des Dharma oder die Natur der Wirklichkeit

In dem Kapitel "Die Dharma-Natur" (Kap. 54, Hosshô) beschreibt Dôgen die Natur, also das Wesen der Wirklichkeit. Die Wirklichkeit selbst kann man mit einem Begriff wie ´Dharma-Natur´ selbstverständlich nur bezeichnen, denn Begriff und Wirklichkeit sind nicht identisch. Das Wort zeigt auf diese Wirklichkeit, ohne dass es selbst diese Realität ist.


Wandbuddha in Datong, China

Es ist wichtig, immer zwischen den Begriffen einerseits und den Tatsachen und der Wirklichkeit andererseits so klar wie möglich zu unterscheiden. Dies ist übrigens auch die Grundlage der modernen wissenschaftlichen Semiotik, die sich mit den Begriffen, Bezeichnungen, Bedeutungen und Inhalten beschäftigt (vgl. Umberto Eco).
Der Zen-Buddhismus hat diese Unterscheidung seit über 1.500 Jahre in fabelhafter Klarheit herausgearbeitet und sie ist für die unmittelbare Erfahrung und das Handeln in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt von wesentlicher Bedeutung. Wer nur den Ideen die höchste Bedeutung zuerkennt, kann zu dieser Wirklichkeit nicht vorstoßen. Das Gleiche gilt für denjenigen, der nur die Form und Materie als real anerkennt und sich auf die Wahrnehmung beschränkt. Dies gilt auch für große Bereiche der heutigen Naturwissenschaft, die mit hervorragenden Methoden und hoch entwickelten Instrumenten der Materie, der Energie und den physikalischen und chemischen Prozessen auf der Spur ist und nicht zuletzt im Bereich der Technik hervorragende Ergebnisse erzielt hat.

Aber die zentralen spirituellen und psychischen Probleme der Menschen wurden damit nicht wirklich gelöst. Die vielfältigen Formen des Leidens wurden bereits bei Gautama Buddha sehr genau bezeichnet und gehören in der Tat überwiegend den psychischen und sozialen Bereichen an. Wer also das Leiden der Menschen überwinden will, kann weder mit den Ideen und dem Denken (Idealismus) noch mit der Wahrnehmung und der Naturwissenschaft (Materialismus) allein weiterkommen. Dies wird auch von den großen Forschern wie z. B. Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg genau so bestätigt. Naturwissenschaft und Religion schließen sich danach überhaupt nicht aus, sondern ergänzen sich im Gegenteil zur umfassenden Wirklichkeit des Lebens und des Universums.

Der zentrale Ansatz des Buddhismus geht über die beiden oben genannten Formen des Lebensverständnisses hinaus. Er bezieht das Handeln im Augenblick der Gegenwart ein und überschreitet das intellektuelle Denken und die Wahrnehmung. Er führt damit zum höchsten befreiten Zustand des Lebens und zum Erwachen. Dieser Zustand ist nach Nishijima Roshi durch das umfassende innere und äußere Gleichgewicht gekennzeichnet, das vor allem in der Zazen-Praxis geübt werden kann und erfahren wird. Dôgen und Nishijima Roshi halten diese Übungspraxis für unverzichtbar, ohne allerdings die buddhistische Lehre, das Denken generell oder die Wahrnehmung abzuwerten und als nebensächlich anzusehen.
Dôgen sagt am Anfang des Kapitels:

"Es gibt ein Erwachen aus euch selbst heraus, das unabhängig von einem Meister ist. Dieses unabhängige Erwachen aus euch selbst heraus ist nichts anderes als das Wirken der Dharma-Natur."

Damit ist die positive und optimistische Lebenshaltung des Buddhismus treffend gekennzeichnet. Denn das Erwachen ist der Ausweg aus dem vielfältigen Leiden, in das wir im Laufe unseres Lebens hineingeraten und es ist nach Dôgen mit der Dharma-Natur identisch. Das Erwachen ist kein gesonderter oder gar ekstatischer Zustand, den Goethe vielleicht als ´Himmel hoch jauchzend´ bezeichnen würde, sondern entspricht der ureigenen Natur und dem Wesen des Universums und des Menschen, die hier als Dharma-Natur bezeichnet werden.
Gleichwohl rät Dôgen uns im Folgenden dringend, einen guten Meister zu suchen, um sich unter ihm zu schulen. Wir sollten dazu die großartigen Sutras des Buddhismus genau studieren. Beides ergibt einen wesentlichen Zugang zur Dharma-Natur. Dies heißt nichts anderes, als dass wir selbst identisch mit der Dharma-Natur sind und diese sich im Erwachen offenbart. Aber es ist ohne fähigen Lehrer und ohne die Sutras sehr schwierig, in diesem Sinne zu erwachen. Es bedarf darüber hinaus erheblicher Anstrengung, um die Befreiung und das Gleichgewicht zu erlangen. Sie werden uns also nicht allein durch Wissen und Glauben geschenkt, sondern müssen auf dem richtigen Wege unter der Führung eines wahren Lehrers erarbeitet werden.
Dôgen sagt hierzu:

"Alle Wesen folgen guten Lehrern und den Sutras, bis sie die Buddha-Wirkung erfahren und die Wahrheit erlangen."

Er bezeichnet dies als den Samadhi der Dharma-Natur, den wir "durch die Begegnung mit dem Samadhi der Dharma-Natur selbst erlangen." Obgleich wir die Dharma-Natur von Natur aus kennen, ein solches Wissen also bereits schon lange in uns tragen bedeutet dies,

"dass wir die uns angeborene Weisheit durch die Begegnung mit der uns angeborenen Weisheit erlernen."

Durch die Übungspraxis, das Lernen von und mit einem Lehrer und die buddhistische Lehre der Sutras begegnen wir nach Dôgen der "angeborenen und natürlichen Weisheit" und diese begegnet sich dadurch selbst. Denn wenn wir sie nicht hätten, könnten wir ihr nicht begegnen und könnten sie nicht erfahren, selbst wenn wir wahre Lehrer und die Sutras hätten und durch sie lernen würden. Dôgen sagt dazu:

"Durch die Kraft ihres eigenen Wissens verwirklichen alle Buddhas, Bodhisattvas und alle Lebewesen die große Wahrheit der alles umfassenden Dharma-Natur“. Durch die Hilfe der guten Lehrer und Sutras verwirklichen wir nach Dôgen die Dharma-Natur "aus sich selbst heraus".

Er bezeichnet diese Dharma-Natur als das wahre Selbst, das etwas ganz anderes ist als das kleine egoistische Ego. Dieses unterscheidet zwischen Subjekt und Objekt hauptsächlich wegen der eigenen Interessen und Vorteile. Durch die damit zwangsläufig ´eingebaute´ Begrenzung in unserem Leben können wir dem Leiden dann nicht entkommen und wir entfremden uns von uns selbst. Dôgen sagt:

"Ein guter Lehrer ist die Dharma-Natur und er ist das (wahre) Selbst.“

Die Dharma-Natur ist daher unser guter Lehrer auf dem Weg der Befreiung und des Erwachens. Die falsche Sicht des Selbst bezeichnet Dôgen sogar als Dämon, der außerhalb des Buddha-Weges ist und uns von ihm abdrängt. Dieser große Weg ist nicht zuletzt das erwachte Leben und Handeln im Alltag, wenn wir „zum Frühstück kommen, zu Mittag essen und Tee trinken."
Dôgen bedauert, dass es viele Menschen gibt, die sich selbst als Praktizierende auf dem Buddha-Weg bezeichnen, die sich aber mit der Frage und dem Inhalt der Dharma-Natur überhaupt nicht beschäftigt haben und "ein Leben lang sprachlos herumgestolpert sind." Es gäbe sogar Mönche, die Meister geworden sind, ohne sich mit der Dharma-Natur beschäftigt zu haben. Wenn sie mit diesen zentralen Fragen in Berührung kommen, fällt "ihr Körper und Geist sogleich in einen Abgrund der Verwirrung".

Sicher aufgrund vielfältiger eigener Erfahrungen beschreibt er diese Menschen so, dass sie leider das Wissen und die Erfahrung der Dharma-Natur weit weg in die Zukunft verlagern und sich in der Gegenwart nicht damit beschäftigen. Sie sehen einen angeblichen Unterschied zwischen der spirituellen Welt der Dharma-Natur und den konkreten Gegebenheiten des Alltags, der Formen und des Handelns. Dies sei aber grundsätzlich falsch. Auch mit äußerst intelligenten Diskussionen kann man die Dharma-Natur jedoch nicht ausloten, da sie zum Bereich der Erfahrung, des Handelns und des höchsten Zustandes der Wirklichkeit gehört. Mit dem unterscheidenden Denken der zeitlichen Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von Begriffen wie ´existent´ oder ´nicht existent´ ist es daher nicht möglich, der Dharma-Natur näherzukommen.
Dôgen zitiert dann die tiefgründige Aussage von Zenmeister Baso:

"Seit unzähligen Weltzeitaltern haben alle Lebewesen den Samadhi der Dharma-Natur nicht verlassen. Sie leben immer in der Wirklichkeit dieses Samadhi, der Dharma-Natur, ganz gleich ob sie sich ankleiden, essen, reden oder sich unterhalten."

Dies bedeutet in beeindruckender Klarheit, dass nicht nur die positiven und idealen Bereiche des Lebens identisch mit der Dharma-Natur sind, sondern überhaupt alles, was es im Universum, auf der Welt und bei den Lebewesen und Menschen gibt. Dôgen sagt dazu, dass Meister Baso auf der Dharma-Natur ´reitet´, denn sein Name bedeutet ´Pferdemeister´. Er sagt, dass wir die Mahlzeit essen und die Mahlzeit uns isst und will damit die Trennung von Subjekt und Objekt überschreiten, die beim wahren Handeln je im Augenblick ohnehin bedeutungslos ist. Die Dharma-Natur kann damit niemals den Menschen verlassen und der Mensch verlässt niemals die Dharma-Natur.

Im Folgenden wird die Einheit der Dharma-Natur mit dem Hier und Jetzt an diesem Ort und jetzt zu dieser Zeit herausgearbeitet. Dies alles ist nach Dôgen im Handeln des Alltags der wirkliche Samadhi der Dharma-Natur. An anderer Stelle erklärt Dôgen, dass die Zazen-Praxis "der König der Samadhis" ist, dass wir also mit dieser Übungs-Praxis ganz im Samadhi der Dharma-Natur sind.

Der unverzerrte Gebrauch der Wahrnehmung der sechs Sinne und das Handeln im Alltag seien identisch mit dem Samadhi der Dharma-Natur. Wenn wir diese dagegen nicht gebrauchen, existiert der Samadhi der Dharma-Natur überhaupt nicht. Diese Wahrheit sei seit Gautama Buddha authentisch von einem Meister zum anderen übermittelt worden und habe so auch Zenmeister Baso erreicht. Dann ging sie weiter zu Meister Dôgen selbst. Dadurch bleibt die Dharma-Natur kraftvoll und lebendig. Dabei sei es nach Dôgen nicht unbedingt erforderlich, dass wir beim Reden und Handeln das Bewusstsein haben, dass darin die Dharma-Natur wirksam sei.
Eine materialistische Sicht unseres Körpers, die nur eine Ansammlung von Atomen und Molekülen, von Informationsverarbeitung und Genen kennt, kann die von Dôgen gemeinte Dharma-Natur nicht erfassen. Aber wenn man so denkt, sei nach Dôgen damit trotz der Begrenzung des Verständnisses die Dharma-Natur auch wirksam. Eine abstrakte Bezeichnung der Natur muss immer unterschieden werden von dem „fließenden Wasser selbst und den Bäumen, die blühen oder kahl werden“.
Dôgen fährt fort:

"Deshalb ist es die wirkliche (Dharma)-Natur, wenn die Blüten sich öffnen und die Blätter herabfallen."

Die Dharma-Natur ist also keine dauerhafte Essenz, die vom Augenblick und der Zeit unabhängig ist, sondern sie verwirklicht sich, indem sich eine Blume öffnet. Dôgen empfiehlt uns dann dringend, nicht nur andere Menschen zu befragen und alles zu glauben, was diese uns erzählen, sondern konsequent eigene Erfahrungen zu sammeln. Wir sollen immer weiter in den Bereich der Dharma-Natur hinein kommen, uns mit diesen Fragen gründlich beschäftigen, sie wieder loslassen und von neuem angehen. Nach Dôgen gibt es ein Denken,

"das sich von Begriffen und Vorstellungen befreit hat und deshalb die Dharma-Natur selbst ist. Das alles umfassende Denken im Denken über die Dharma-Natur ist so beschaffen."

Am Ende des Kapitels stellt Dôgen eine Vielzahl von Fragen, die über Basos Worte noch hinausgehen. Er will uns sicher damit anregen, dass wir uns nicht mit den Zitaten großer Meister zufriedenzugeben, sondern durch eigene vielfältige Fragen immer tiefer in das hinein kommen, was als Dharma-Natur bezeichnet wird. Er sagt:

"Zum Beispiel sagte Baso nicht, dass die ganze Dharma-Natur die Dharma-Natur nicht verlassen kann. Er sagte nicht, dass die ganze Dharma-Natur das Ganze der Dharma-Natur ist und sagte nicht, dass alle Lebewesen sich selbst als Lebewesen nicht verlassen können. Er sagte auch nicht, dass die Dharma-Natur frei vom (Begriff) ´Dharma-Natur´ ist und nicht, dass sich die Lebewesen von (der Vorstellung) eines Lebewesens befreien können."

Schließlich befragt er Meister Baso, was dieser mit "alle Lebewesen" wirklich ausdrücken will, denn letztlich ist es mit dem denkenden Verstand und Begriffen nicht zu erfassen. Er zitiert die Sätze berühmter Meister in diesem Zusammenhang: "Was ist es, das so gekommen ist?" und "etwas mit Worten zu erklären trifft nicht den Kern der Sache." Er fordert uns auf, diese Frage sofort zu beantworten und spontan zu erklären. Er möchte uns also unmittelbar einbeziehen, um uns davor zu bewahren, dass wir seine große Lehre nur passiv aufnehmen und sie nicht selbst erfahren und erforschen.