Sonntag, 27. Juli 2008

Das Drehen des Dharma-Rades und den Buddhismus lehren

In diesem Kapitel (Kap. 74, Tenborin) wendet sich Dogen gegen die nicht selten anzutreffende Meinung, dass nur die Worte und Formulierungen von Gautama Buddha selbst die wahre Buddha-Lehre sind.

Nishijima Roshi in seiner Wohnung

Der Begriff des „Dharma-Rades“ wird im Buddha-Dharma häufiger verwendet, um den wahren Buddhismus zu bezeichnen und seine Entwicklung in der Welt aufzuzeigen. Dogen sagt klipp und klar, dass alle wirklich erwachten großen Meister den wahren Buddhismus lehren, praktizieren und vermitteln, unabhängig davon, ob sie in Indien oder in einem anderen Land lebten oder jetzt leben. Er bezeichnet diese großen Meister wie seinen eigenen Lehrer Tendô Nyojô häufig als ewigen Buddha. Sie alle drehen also das große Dharma-Rad der buddhistischen Lehre.

Auch bei Indologen der heutigen Zeit begegnet man zuweilen der Ansicht, dass nur die originalen und wissenschaftlich einwandfrei Gautama Buddha zuzuordnenden Worte die wahre Lehre seien, sodass zum Beispiel spätere Zusätze als unbedeutend und wenig aussagekräftig abgetan werden. Dies gilt dann im besonderen Maße für die buddhistische Lehre in anderen Sprachen als Sanskrit oder Pali und für Regionen, wie zum Beispiel China oder Japan. Für Dogen ist maßgeblich, ob ein Meister zur Wahrheit erwacht, also erleuchtet ist oder nicht. Dann und nur dann handelt es sich um den wahren Buddha-Dharma, der das Dharma-Rad dreht.

Es ist sicher nicht verwunderlich, dass Dogen sich im besonderen Maße auf die großen Meister in China bezieht, zum Beispiel Bodhidharma, Daikan Enô, Seppo, Gensa, Joshu und nicht zuletzt Tendô Nyojô, die er außerordentlich schätzte und häufig zitierte. Er hält es für entscheidend, dass im Augenblick des Sprechens, also der lebendigen Lehre, die Wahrheit ausgedrückt und übertragen wird, wenn es sich um einen wahren Meister handelt. Dann kann die buddhistische Lehre zu jeder Zeit und an jedem Ort auf der Welt gelehrt werden und sie hat eine umfassende universale Bedeutung. Für ihn besteht kein Zweifel, dass ein lehrender Meister jeden Tag Zazen praktizieren muss, um im Zustand des Gleichgewichts zu bleiben und das Dharma-Rad zu drehen.

Dogen zitiert verschiedene große Meister, die scheinbar recht unterschiedliche Aussagen und Interpretationen zu einem berühmten Zitat geben. Zunächst nennt er seinen eigenen Meister Tendô Nyojô, der Gautama Buddha zitiert:


"Wenn ein Mensch die Wahrheit offenbart und zum Ursprung zurückkehrt, verschwindet der Raum in den zehn Richtungen vollständig."

Sein Meister habe dann bedauert, dass dieser Satz von fast allen missverstanden worden sei und gibt seine eigene Erklärung:

"Wenn ein Mensch die Wahrheit offenbart und zum Ursprung zurückkehrt, zerbricht ein Bettel-Junge seine Essschale.“

Als Nächstes zitiert er große Meister aus mehreren Jahrhunderten des chinesischen Zen-Buddhismus wie folgt:

"Wenn ein Mensch die Wahrheit offenbart und zum Ursprung zurückkehrt:
knirscht der Raum in den zehn Richtungen,
ist der Raum in den zehn Richtungen genau der Raum in den zehn Richtungen und
legt der Raum in den zehn Richtungen sich Blumen an über den Brokat."


Schließlich gibt Dogen seine eigene Deutung und sagt:

„Wenn ein Mensch die Wahrheit offenbart und zum Ursprung zurückkehrt, offenbart der Raum in den zehn Richtungen die Wahrheit und kehrt zum Ursprung zurück.“

Wie soll man diese recht unterschiedlichen Aussagen verstehen? Nach Nishijima Roshi geht es in diesem Kapitel vor allem darum, wie die verschiedenen großen Meister den Buddha-Dharma lehren. Denn jeder Nachfolger im Dharma hat durchaus seine eigene Ausdrucksweise, die sich scheinbar von den anderen unterscheidet. Der Buddhismus ist die Lehre von der Wirklichkeit und das tiefe Vertrauen, dass der Sinn des Lebens sich offenbart und die Überwindung des Leidens durch das Erwachen zur Wirklichkeit und durch entsprechendes Handeln für jeden möglich ist. Und genau diese fundamentale Wahrheit wurde von Gautama Buddha und allen großen Meistern gelehrt. Die zitierten Aussprüche haben folgende Bedeutung:

1) Alle Vorstellungen, Konzepte und Vorurteile über die zehn Richtungen der Welt werden überwunden und verschwinden vollständig. Dann erscheint die Wirklichkeit wie sie ist, unverstellt in Klarheit und Schönheit.

2) Ein bettelnder Junge hat im allgemeinen Hunger und ist ganz auf das Essen fixiert, sodass es in seinem Leben kaum für etwas Anderes Raum gibt. Wenn er aber zur Wahrheit erwacht ist, verliert die einseitige Fixierung auf das Essen seine Bedeutung und er wird frei von der einseitigen Gier nach Nahrungsmitteln. Dann öffnet sich für ihn die Wirklichkeit, und seine durch die schwierigen Lebensumstände verengte psychische Situation ändert sich vollständig.

3) Im Buddhismus darf die Vielfalt der Welt, also die Dinge und Phänomene der zehn Richtungen, nicht vernachlässigt werden. Es hat keinen Sinn, einem weltfremden Idealismus nachzuhängen und die wunderbare Vielfalt mit all ihren Möglichkeiten, Chancen aber auch Problemen zu leugnen. Diese Vielfalt in der Welt "drängelt und schubst sich" und genau dies ist die Realität der Welt, in der wir leben.

4) Ein anderer Meister lehrt, dass sich nach dem Erwachen eigentlich gar nichts grundsätzlich ändert, da wir zur Natur und Wirklichkeit zurückgekehrt sind. Das heißt, wir erkennen dann, dass der Raum in den zehn Richtungen wirklich der Raum in den zehn Richtungen ist und dass sich nichts Fundamentales geändert hat. Es gibt also keine großartige Veränderung durch die sog. Erleuchtung.

5) Im Herbst entwickelt die Natur in China und Japan eine wunderbare Schönheit, mit gelben und roten Farben und Blumen. Diese natürliche größere Schönheit legt sich gewissermaßen über die kostbaren Gewänder der bedeutenden Menschen, die sich in luxuriösem Brokat und wertvollen Stoffen kleiden. Die Schönheit der Natur ist also die große Wirklichkeit und die wahre Schönheit.

Die Aussagen in diesen Zitaten bestehen zunächst nur aus den Worten und Sätzen und diese sind nicht die Wirklichkeit selbst. Wie häufig können wir in der Tat erleben, dass gesprochene und geschriebene Aussagen sich von der Wirklichkeit abgelöst haben und oft von Interessen gesteuert andere beeinflussen und auch beeinflussen sollen. Wichtige Beispiele hierfür sind die Werbesprüche der modernen Konsumgesellschaft, die als Lebensweisheiten übermittelt werden, aber in Wirklichkeit den materiellen Verkauf fördern sollen. Aber auch politische Aussagen haben selten die Wirklichkeit und Wahrheit zum Inhalt und sind daher mit großer Vorsicht zu behandeln.

Dogen sagt hier, dass die Sprache aber zur Wirklichkeit selbst vorstoßen kann und zweifellos versucht er dies in allen seinen Werken und vor allem im Shôbôgenzô. Dann übersteigt die Sprache die Ebene des Sprechens und Zuhörens und wird handelnde Wirklichkeit selbst. Es ist keine Frage, dass dies die höchste Form ist, um den Buddha-Dharma zu lehren, sei es in einer Lehrrede oder in einem persönlichen Gespräch.

Es gibt in der Tat einen Schlüsselsatz zu den Werken von Meister Dogen: Man könne dies vielleicht so ausdrücken, dass „die Wirklichkeit des Bambus, der Chrysanthemen und der zehn Richtungen in die Dharma-Rede und in die Worte kommt“. Wir möchten dabei an das berühmte Zitat von Dogens Lehrer Tendô Nyojô, der selbst ein großer Maler war, erinnern, der sagte: "Der Bambus kommt in das Bild."

Das erste obige Zitat, das Gautama Buddha zugeschrieben wird, dass nämlich der Raum in den zehn Richtungen vollständig verschwindet, wird in dem sog. Shuramgama-Sutra wiedergegeben und wurde häufig untersucht und diskutiert. Anhand dieses Beispiels fragt sich Dogen, wann Aussagen aus einem Sutra authentisch sind und wann nicht. Häufig wird nur ein einwandfrei originales Zitat von Gautama Buddha selbst als wahre buddhistische Lehre anerkannt. Dogen sieht aber ohne jeden Zweifel die Aussprüche und Koan-Geschichten der großen chinesischen Meister als wahren Buddha-Dharma an. Es käme allein darauf an, dass es sich um einen wahren Meister handelt oder nicht. Er lehnt daher auch den Begriff "unechtes Sutra" ab. Wenn die großen Meister in ihrem Sinne den Buddha-Dharma zitieren, ist dies nach Dogen immer das Drehen des Dharma-Rades, also wahre buddhistische Lehre.

Dogen sagt ganz klar, dass die "unechten Sutras" zur wirklichen Lehre des Buddhismus werden, wenn sie von einem großen Meister ausgewählt und übermittelt werden. Dabei zeichnet sich ein solcher Meister durch die Einheit von Lehre und Praxis aus, denn nur dann handelt es sich um die authentische buddhistische Lehre. Wenn ein Meister "Ziegel und Kieselsteine, gelbe Blätter, eine Udumbara-Blume und auch ein Kleidungsstück aus goldenem Brokat" aufgreift, wird dies zur wahren buddhistischen Lehre und dreht das Dharma-Rad. Es ist dann die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges. Diese großen Meister seien als Brüder miteinander verbunden und dies sei eine engere Bindung als in den sozialen Familien.

Ein einziger Satz aus einem buddhistischen Text wird durch einen großen Meister zur wahren buddhistischen Lehre. Aber dies bedeutet nicht, dass der gesamte Text der wahre Buddha-Dharma ist und das Dharma-Rad dreht. Dogen sagt hierzu:

"Obgleich dieser Satz einen gewöhnlichen Satz überschreitet, sollten wir nicht annehmen, dass alle Sätze des ganzen Buches in Inhalt und Form eine Aussagen des Buddhas oder die Worte eines (wahren) Vorfahren im Dharma sind. Wir sollten nicht (jeden Satz) als das Auge des Lernens in der Praxis ansehen."

Jeder große Meister habe das Dharma-Rad gedreht und ist damit in seinen Lauten und Formen über die üblichen Laute und Formen hinausgegangen. "Sie drehen das Dharma-Rad und überspringen in Freiheit die Laute und die Form."

Dies vollzieht sich im tätigen Handeln. Dogen sagt: "Den gegenwärtigen Satz zu erfassen, hier und jetzt, ist genau den hellen Stern zu ergreifen."

Er spricht damit Gautama Buddhas Erwachen in der Morgendämmerung an, als der Morgenstern hell und klar aufging. Das Dharma-Rad, die großen Meister und die Vorfahren im Dharma bilden eine unauflösbare Einheit. Dies genau bedeutet dass Drehen des Dharma-Rades. Dogen sagt am Ende dieses Kapitels

"Das Dharma-Rad zu drehen bedeutet, sich das ganze Leben lang anzustrengen, in der Praxis zu lernen, ohne den Boden des Tempels zu verlassen. Es bedeutet das Wohlwollen der Lehre zu erbitten und nach der Wahrheit auf langen Zazen-Bänken zu streben."

Er sagt damit, dass es nicht notwendig ist, in dieser Welt von einem Tempel und einem Retreat zum anderen zu wandern, sondern dass der wahre Buddhismus in einem Tempel bei einem wahren Meister zu Hause ist, dass man erkennt, wie wertvoll und großartig die buddhistische Lehre ist und dass man Zazen auf den etwas erhöhten Bänken in der Zazen-Halle übt. Nishijima Roshi betont, dass es vor allem darauf ankommt, jeden Tag Zazen zu praktizieren und rät uns, morgens und abends jeweils etwa eine halbe Stunde zu sitzen.