Donnerstag, 27. März 2008

Das Dokument der Dharma-Nachfolge

In diesem Kapitel beschreibt Dôgen sehr genau die authentischen Dokumente der Nachfolge von einem Meister zum anderen, also die Übertragung des Dharma und schildert seine eigenen tiefen Erlebnisse, als er auf seiner Chinareise solche Urkunden mit eigenen Augen sehen konnte.

Meister Renpo Niwa, Abt von Eheiji
Die japanische Bezeichnung ist Shisho (Kap. 16), wobei Shi die Übertragung oder Nachfolge bedeutet und sho das Dokument oder die Urkunde. Die Übertragung des Dharma von dem Meister auf den Schüler hat im ostasiatischen Buddhismus eine sehr hohe Bedeutung, weil sie die lebendige Weitergabe des wahren Buddhismus beinhaltet und neben der Lehre und Theorie sowie der buddhistischen Praxis aus der Sicht von Dôgen unbedingt zum authentischen Fortbestand der Schatzkammer des wahren Dharma-Auges gehört. Zu Dôgens Zeiten war dies in Japan noch unbekannt, und auch in China gibt es diese Übertragung erst, seitdem der große indische Meister Bodhidharma, der selbst der authentischen Linie von Gautama Buddha und Nagarjuna angehört, nach China gekommen war.
In der Tradition des Sôtô in Japan wird in der Übertragungs-Zeremonie dieses Dokument vom Meister übergeben, in ihm sind alle Namen der vorangegangenen Meister bis zu Gautama Buddha verzeichnet. In der Tradition von Dôgen und Nishijima Roshi sind diese Namen in Form eines Kreises rechts herum angeordnet, wobei der letzte Nachfolger rechts unten neben dem Beginn durch Gautama Buddha steht. Alle Namen sind durch eine Linie miteinander verbunden, sodass ein fortlaufendes Band entsteht. Traditionell besteht dieses Dokument bei Nishijima Roshi nicht aus Papier, sondern aus weißer Seide. Dies berichtet auch Dôgen. Er sagt hierzu wörtlich:
"Die Buddhas geben den Dharma immer von Buddha zu Buddha weiter, die Vorfahren im Dharma geben den Dharma immer von einem Vorfahren zu seinem Nachfolger weiter. Dies ist die Erfahrung des Einsseins (mit Buddha). (Dieses Einssein) wird direkt (vom Meister auf den Schüler) weiter gegeben und deshalb ist es das höchste Erwachen."

Mit der Übertragung wird der vorherige Schüler dann selbst zum Meister und handelt und lehrt dann sozusagen auf der selben Ebene. Nishijima Roshi führt diese Zeremonie so durch, dass der Schüler dann auf seinem eigenen Sitz Platz nimmt und er zum Zeichen der Meisterübertragung diesen rechts umrundet. Dôgen hält diese lebendige Übertragung für außerordentlich wichtig, da sie das lebendige Band und das Einssein beinhaltet. Er sagt dazu:

"Wenn ihr das Siegel der Bestätigung eines Buddhas erhaltet, erwacht ihr aus euch selbst heraus, unabhängig vom Meister und ihr erwacht aus euch selbst heraus unabhängig vom Selbst."
Mit dem Selbst ist das abgegrenzte Ego gemeint, das sich im Augenblick der Übertragung öffnet und seine alte Begrenzung verliert. Dies bedeutet nicht, dass der Meister ein willenloses Objekt seiner Umgebung ist, sondern im Gegenteil, dass er im Einklang mit dem Buddha-Dharma und der Moral handelt, denkt und redet und zum Beispiel auch ohne Worte lehren kann. Wer nicht selbst die Übertragung in einer authentischen Linie erhalten hat, kann nach Dôgen den Buddha-Dharma auch nicht an einen Schüler weitergeben.
Die Übertragung ist durch das Dokument selbst durchaus materiell erfahrbar, denn es besteht aus weißer Seide und den darauf geschriebenen Namen der vorangegangenen Meister. Jeder Meister steht und handelt nach Dôgen dann für sich selbst wie "eine Chrysantheme der anderen folgt", aber das zeitliche Nacheinander hat keine wesentliche Bedeutung. Wichtig ist, dass jede einzelne Übertragung von Angesicht zu Angesicht lebendig zu der bestimmten Zeit vollzogen wird, während die lineare Zeit keine Rolle spielt. So sind die Meister der Übertragungslinien zur selben Zeit lebendig und existieren damit wirklich. Dôgen sagt hierzu:

"Wenn ihr das Einssein nicht erfahrt und nicht buddhistischer Meister seid, habt ihr weder die Weisheit eines Buddhas noch die vollkommene Verwirklichung eines Vorfahren im Dharma."

Er legt Wert darauf, dass es sich wirklich um die körperliche Anwesenheit von Angesicht zu Angesicht handelt und dass der Geist im umfassenden buddhistischen Sinne eins ist zwischen Meister und Schüler. Gleichzeitig ist der Nachfolger eins mit allen Vorfahren und mit Gautama Buddha selbst, und dies Ganze ist das verwirklichte Universum. Eine solche Übertragung von Buddha zu Buddha sei tief und ewig und ohne Rückschritt und ohne Abweichung: "Sie ist ohne Unterbrechung und ohne Ende."
Wie an vielen Stellen beschrieben wird, wurde der erste Nachfolger Mahâkâshyapa nach ostasiatischer Tradition ohne Worte zum Nachfolger, indem Gautama Buddha eine Blume hochhielt, sie leicht in der Hand bewegte und Mahâkâshyapa im tiefen Einssein lächelte, ohne dass überhaupt nur ein Wort gewechselt wurde.

Dôgen betont, dass die formgebundene Dharma-Übertragung nur ein Teil des Einsseins ist. Wäre sie nur an die materielle Form des Dokuments gebunden, dann hätte der lebendige Dharma nicht zweieinhalb Jahrtausende überdauert und wäre nicht lebendig in den verschiedenen Traditionen bis auf den heutigen Tag weiter gegeben worden.
In den buddhistischen Geschichten Ostasiens gibt es mehrere Beispiele einer bedeutenden Dharmaübertragung. Am berühmtesten ist wahrscheinlich diejenige von Bodhidharma an den zweiten Vorfahren im Dharma in China, Taiso Eka, das mit den Worten geschah:

"Du hast meine Haut, mein Fleisch, meine Knochen und mein Mark."

Dôgen betont dann noch, dass es gar nicht wesentlich ist, ob der Schüler die Übertragung erwartet oder nicht und ob er sie gesucht hat oder nicht.
Wer nur die Theorie des Buddhismus erlernt und auch wunderbar über die Sutra reden kann "als ob Blumen vom Himmel regnen", kann nach Dôgen jedoch nicht die Wahrheit des Buddhismus weiter geben, weil er sie selbst nicht besitzt. Er sagt:

"Wie bedauerlich, dass sie im Netz der Theorien gefangen sind, obwohl sie ihren menschlichen Körper als Gefäß der Wahrheit empfangen haben. Leider kennen sie nicht den Weg der Befreiung."

Die Theorie allein ist nicht in der Lage, das ´Netz´ der Ideen und Gedanken zu zerreißen und zur Wirklichkeit im Hier und Jetzt zu gelangen.
Dôgen berichtet, dass er verschiedene alte Dokumente der Nachfolge großer Meister gesehen hat, als er in den Klostern von China weilte. Er sagt dazu:

"Es war ein Augenblick tiefer spiritueller Verbundenheit mit den Buddhas und Vorfahren im Dharma, die ihre Kinder und Enkel beschützen und bewahren. Das Gefühl großer Dankbarkeit war unbeschreiblich."

Man muss wissen, dass diese Dokumente bereits damals zum Teil über dreihundert Jahre alt waren und von den verschiedenen Linien der ganz großen Meister wie Hogen, Ungan, Unmon usw. weitergegeben wurden. Dabei sind die äußerlichen Unterschiede der Dokumente in den verschiedenen Traditionen nicht von großer Bedeutung, wesentlich ist allein, dass sie über Bodhidharma, Nagarjuna direkt auf Gautama Buddha selbst zurückgehen.
Dôgen bedauert dann, dass diese wahre Übertragung bereits damals im Verfall begriffen war und sagt:

"Wie schade, dass es solche verkehrten Verhaltensweisen(zur Übertragung) in diesem korrupten Zeitalter des letzten Dharma gibt. Nicht einer von diesen Menschen hat die Wahrheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma gesehen oder erfahren, nicht einmal im Traum."

Er beschreibt dann verschiedene Tricks, wie man von einem bekannten Meister ein handschriftliches Dokument erhalten konnte, das aber nicht eine wirkliche Dharma-Übertragung war. Ein solches Dokument werde anderen gegenüber fälschlich als wahre Übertragung deklariert. Er schildert, dass einige Meister zwar unter Druck ein derartiges unwirksames Dokument der scheinbaren Nachfolge schrieben, das dieses sich aber vom Original wesentlich unterschied. Es sei damit für die Dharma-Nachfolge wertlos.
Er berichtet von seinem eigenen Meister Tendo Nyojô, der davor warnte, mit der Dharma-Nachfolge zu prahlen und sich vor anderen aufzuspielen. Das Dokument der Übertragung "zu sehen und zu hören könnte selbst schon die Erforschung der Wahrheit sein." Dôgen berichtet, dass er das große Glück hatte, selbst auf dem Berg Tendô eine solche wertvolle Urkunde zu sehen. Er schreibt:

"Als ich sie zum ersten Mal sah, war ich außer mir vor Freude. Es war eine tiefe spirituelle Botschaft der Buddhas und Vorfahren im Dharma."

Er hielt dann ein Dokument in Händen, das in Form einer Rolle von etwa drei Meter Länge aufgebaut war, in dem alle Namen bis zum letzten Meister verzeichnet waren. Er berichtet dann von einem Meister, der wenige Tage vor seiner Ankunft einen Traum hatte, dass jemand von Bord eines Schiffes kommen werde und dass es Pflaumenblüten regnen würde. Als Dôgen selbst diesem Meister begegnete, war dieser fest davon überzeugt, dass er die Gestalt des Traumes sei, die von Japan mit dem Schiff gekommen war. Der Seidenstoff war mit fallenden Pflaumenblüten gemustert, auf den die Namen der Meister geschrieben waren. Dôgen berichtet jedoch, dass er die Dharma-Nachfolge dort nicht erhielt, sondern von seinem hochverehrten Meister Tendo Nyojô. Er fügt hinzu, dass die Namen zum Teil mit dem Blut vom Meister und Schüler geschrieben waren, wie zum Beispiel bei Daikan Enô.

Dôgen zitiert am Ende des Kapitels eine Passage von seinem eigenen Lehrer Tendo Nyojô, der sich besonders mit der Bedeutung der zeitlichen Abfolge der Dharma-Übertragungen beschäftigt hatte. Es wird dabei deutlich, dass das zeitliche Nacheinander nicht das Wichtigste ist. Wir sollen die Nachfolge so verstehen, dass sowohl die legendären Buddhas, die ´zeitlich´ vor Gautama Buddha gewirkt haben, als auch die folgenden großen Meister gemeinsam und zusammen existieren. Dôgen sagt am Ende dieses Kapitels:

„Damals konnte ich, Dôgen, zum ersten Mal die Tatsache annehmen, dass die Dharmanachfolge der Buddhas und Vorfahren im Dharma wirklich existiert und ich konnte mich von einem alten Nest (von falschen Vorstellungen) befreien.“

Montag, 24. März 2008

Die Buddha-Augen

In diesem Kapitel Ganzei (Kap. 63) beschreibt Meister Dôgen in eindrucksvoller Klarheit das buddhistische Verständnis der Augen. Der Begriff Ganzei kommt im Shôbôgenzô recht häufig vor und hat einerseits die Bedeutung unserer körperlichen Augen, mit denen wir sehen und die für unser menschliches Leben selbstverständlich von größter Bedeutung sind.
Wir wissen heute, dass etwa die Hälfte unseres Gehirns mit den Augen zusammenarbeitet, dass also das Gesamtsystem Auge-Gehirn die Hälfte unserer Leistungen und Fähigkeiten des physischen Gehirns ausmacht. Sehr viele Funktionen dieses Gesamtsystems sind uns nicht bewusst und gehen automatisch vor sich. Das Gehirn leistet besonders viel, wenn wir uns selbst bewegen oder wenn sich gesehene Objekte verändern. Dann wird eine Reduzierung auf einen "statischen Zustand der Dinge" durchgeführt, während wir uns selbst und die äußeren Dinge fortlaufend verändern. Das Gehirn „berechnet“ aus der Wahrnehmung ein stehendes Bild, das wir scheinbar sehen, das aber in Wirklichkeit in unserer Vorstellung entsteht.
Viele Vorgänge bei der Wahrnehmung sind uns gar nicht bewusst, die wir im Laufe des Lebens gelernt haben. Dabei sind auch psychische Prozesse aktiv, z. B. wird aus der komplexen Vielfalt nach Wichtig und Unwichtig ausgewählt, es wird weiterhin nach Angenehm, Neutral oder Unangenehm bewertet, und es wird durch Vorurteile verzerrt und nach Interessen "verbogen". Selbstverständlich spielt die Gier nach Vorteil, Genuss, Macht und Profit beim gewöhnlichen nicht erwachten Sehen eine große Rolle.
Dôgen erläutert in diesem Kapitel andererseits, wie wir mit unseren Augen wirklichkeitsnäher und unverzerrt sehen können, wie also erwachte Augen sehen. Dies geht über die physischen Dimensionen hinaus. Gerade durch die Augen wird uns häufig das dualistische Sehen und Verstehen der Welt nahegelegt, so als ob die Dinge außerhalb und von uns getrennt vorhanden sind.
Der Buddhismus lehrt aber, dass eine solche dualistische Sichtweise zwar für manche Lebensbereiche und Situationen brauchbar ist, dass aber tiefer gehende psychische und spirituelle Bereiche damit nicht erreicht werden können. Die dualistische Wahrnehmung sowie die automatisch mitlaufenden Bewertungen und Gedanken können die Wirklichkeit niemals vollständig erfassen, sondern sind nur Ausschnitte und Teilwahrheiten. Wie Gautama Buddha lehrt, ist dies die Ursache für vieles Leiden in unserem Leben. Durch seine Lehre und Praxis können wir erwachen, also die erste und zweite Erleuchtung erlangen. Nach dem Buddha-Dharma entspricht die Trennung von Subjekt und Objekt nicht der Wirklichkeit sondern sie ist künstlich, angelernt und entspricht nicht unserem natürlichen Zustand und unserem wirklichen Handeln.
Wenn wir auf dem Weg des Buddha-Dharma erwachen, bedeutet dies nach Dogen, dass wir die „alten“ begrenzten Augen verlieren und die neuen erwachten bekommen. Dazu müssen wir emotionsgesteuerte Sichtweisen und Vorurteile und lieb gewordene "Denknester" auflösen und damit zu einer neuen Freiheit des Sehens, Handelns und Denkens kommen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass ein solches Erwachen nicht allein durch das Denken möglich ist, da gerade der Defekt der Trennung von Subjekt und Objekt im Denken und in der Wahrnehmung verankert ist. Wir können unsere Denknester nicht durch Denken auflösen, weil unsere Gedanken gerade durch die Denknester festgelegt und eingeengt sind.
Dôgen sagt in diesem kurzen, aber außerordentlich wichtigen Kapitel, dass wir einerseits die konkreten Dinge unserer Umwelt genau betrachten sollen, dass unser Sehen aber darüber hinaus gehen muss, wenn wir die buddhistische, umfassende Wirklichkeit erkennen wollen.
Dôgen zitiert seinen Meister Tendô Nyojô:
"Der Herbstwind ist rein und frisch und der Herbstmond klar und hell;
die Erde, die Berge und Flüsse leuchten klar im Auge;
Tendô sieht sie und sie begegnen sich neu und frisch;
sie laufen mit Stöcken rufend umher und prüfen mich, den Flickenmönch."

Dôgen erklärt dazu:
"Den Flickenmönch zu prüfen bedeutet festzustellen, ob Tendô Nyojô ein ewiger Buddha ist. Das Wesentliche ist hier, dass (die Erde, die Berge und die Flüsse) mit Stöcken und Katsu-Schreien umher rennen und dies nennt man, sie in jeden Augenblick neu und frisch zu sehen. Dies ist das kraftvolle Wirken des Buddha-Auges.“

In der ersten Zeile geht es um die Wahrnehmung des Herbstwindes und des Mondes im Herbst. Diese Jahreszeit ist in China und Japan besonders hoch geschätzt, weil die Hitze und Schwüle des Sommers dann vorbei sind, die Nächte wieder kühl und klar werden und die Chrysanthemen blühen. Das Laub färbt sich dann mit vielfältigen wunderbaren Farben. Das Gedicht von Tendô Nyojô geht also über eine durch äußerliche Form gebundene Beschreibung hinaus und vermittelt große poetische Kraft.

Dôgen spricht dann von der Begegnung der klaren Erde, Berge und Flüsse mit dem Meister. Dabei wird deutlich, dass eine Trennung in ein Subjekt, das sieht und die Natur, die gesehen wird, unsinnig oder zumindest eindimensional ist. In der letzten Zeile wird auf das Erwachen des Meisters hingewiesen, die von der Natur geprüft und getestet wird. Damit wird gesagt, dass die Natur in besonderer Weise unseren psychischen und geistigen Zustand an uns selbst zurückmelden kann und, wie es in einem anderen Kapitel heißt, den Buddha-Dharma lehrt. Wer nach Dôgen in Wechselwirkung mit der Natur das große Erwachen erfährt, z. B. durch blühende Pfirsichbäume im Frühling oder den Wind und den Mond im Herbst, ist besonders sicher im Gleichgewicht verankert und „fällt nicht zurück“.
Die Klarheit und Frische des Herbstwindes erfahren und erleben wir im Augenblick, wenn wir offen für die Natur sind und nicht durch Gedanken und Emotionen besetzt sind. Wir alle kennen das tiefe Gefühl der Einheit mit der Natur und die heilende Kraft, die von solchen Augenblicken ausgeht. Dann kann man in der Tat nicht mehr zwischen außen und innen unterscheiden, sondern erfährt den einzigartigen Augenblick der Einheit und des Göttlichen. Dôgen sagt weiter:

"Ein solcher Flickenmönch liebt weder das große Erwachen noch das Nicht-Erwachen, sondern er ist selbst das Buddha-Auge."

Dann sind Begriffe wie Erwachen oder Nicht-Erwachen überflüssig und man benötigt sie überhaupt nicht mehr, denn es geht um das direkte Erfahren und Erleben. Man kann dafür zwar Bezeichnungen erfinden und verwenden und diese sind durchaus nützlich für die Kommunikation und die Lehre des Buddha-Dharma, aber sie sind nicht die Wirklichkeit selbst. Sie sind wie der Finger, der auf den Mond zeigt, und dies ist nicht die Wirklichkeit des Mondes.
Dôgen erläutert dann, dass Bezeichnungen wie Groß und Klein für die Buddha-Augen ungeeignet sind, sodass es z. B. nicht sinnvoll sei zu sagen, dass der Körper groß und die Augen klein sind. Die physische, materielle Dimension des Auges ist für die hier gemeinten Buddha-Augen wenig geeignet.

Dôgen zitiert dann ein Koan-Gespräch zwischen dem jungen Meister Tôzan und dem älteren Meister Ungan, das zunächst schwer verständlich erscheint: Meister Tôzan sagte:

"Ich bitte euch um das Auge, Meister."
Dieser antwortete: "Wem hast du deines gegeben?"
Der junge Tôzan sagte: "Ich habe keines."
Der ältere Meister Ungan sagte dann weiter:

"Du hast (bereits) das (Buddha) Auge, wohin blickst du?"
Der junge Tôzan beantwortete diese Frage nicht. Stattdessen sagte der ältere Ungan:

"Das Auge zu erbitten ist selbst schon das Auge oder trifft dies nicht zu?" Tozan antwortete darauf: "Es ist nicht das Auge."

Wir wollen nun versuchen, dieses schwierige Koan zu entschlüsseln. Zu Beginn bittet der junge Tôzan "um das Auge" Dies bedeutet, dass er die Belehrung für das Erwachen oder zum Buddha-Dharma erbittet. Sein Lehrer, Meister Ungan fragt ihn daraufhin, wem er sein Auge gegeben habe. Dies hört sich so an, als ob das erwachte Auge ein Objekt sein kann, das man jemanden anderen gibt, aber dies ist nicht richtig, denn bei dem Buddha-Auge gibt es keine Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt.

Deswegen sagt der junge Meister Tôzan auch: "Ich habe keines." Dies kann ähnlich verstanden werden wie die Frage, ob man die Buddha-Natur hat oder nicht. Eine solche Frage kann aber so nicht beantwortet werden, denn die Aussage würde auf der materiellen Ebene der Objekte bleiben und kann die vierte Lebensphilosophie des Erwachens nicht beschreiben. Dôgen sagt hierzu:

"Wenn Tôzan sagt, er habe kein (Auge), so ist das Wesentliche dabei, dass das Nicht-Haben in seinen Worten besagt, dass er das (wahre) Auge hat und damit in irgendeine Richtung blickt."

Er bittet uns dann, dass wir uns intensiv mit diesem Dialog beschäftigen und nicht voreilig denken, wir hätten alles verstanden. Er fragt uns auch was es bedeutet, wenn man mit erwachten Augen in eine Richtung blickt.
In dem obigen Koan-Gespräch antwortet Tôzan dann nicht und will sicher damit andeuten, dass man dabei mit Worten das Wesentliche nicht beschreiben kann. Dôgen sagt hierzu:
"Das heißt nicht, dass er verwirrt gewesen wäre, sondern sein Schweigen zeigt die Qualität seines karmischen Bewusstseins, das unabhängig und selbstständig war."
Obgleich Tôzan noch der Schüler von dem Ungan war, hatte er schon eine große Eigenständigkeit im Buddha-Dharma erlangt und wollte offensichtlich durch Worte nicht vom Wesentlichen ablenken.

Ungan belehrte seinen Schüler jedoch: "Das Auge zu erbitten ist schon selbst das Auge oder trifft dies nicht zu?"
Dôgen sagt hierzu:
"Hier blitzt das Buddha-Auge plötzlich auf, dieses kraftvolle lebendige Auge, das (die gewöhnliche Art zu sehen) zerspringen lässt."

Die letzte Aussage von Meister Tôzan: "Es ist nicht das Auge", wird von Dôgen als das wahre Buddha-Auge bezeichnet, "das sich mit lauter Stimme selbst bekundet".
Wenn wir die gewöhnlichen Augen nicht mehr haben und im Buddha-Dharma vorangeschritten sind, dann begegnen wir nach Dôgen "dem kraftvollen Buddha-Auge, das sich selbst offenbart."
Dôgen sagt am Ende seines Kommentars zu diesem Koangespräch:

"Letztlich erfahrt und erforscht ihr das Höchste, wenn ihr direkt in das Buddha-Auge hineinspringt. Dies bedeutet, dass ihr den Bodhi-Geist erweckt, euch schult und die große Wahrheit erfahrt. Dieses Buddha-Auge war von Anfang weder subjektiv noch objektiv. Da es nirgends auch nur das geringste Hindernis gibt, gibt es auch hierbei überhaupt kein Hindernis."

Damit sagt er, dass Vorurteile und fest gefügte Meinungen genau so wie emotionale Anziehung oder Ablehnung auf dem Weg des Buddha-Dharma und vor allem bei der buddhistischen Praxis aufgelöst und überwunden werden. Erst dann kann man mit seinen Augen die Wirklichkeit sehen, die über äußere Formen und das Materielle hinausgeht.

Denn die Buddha-Wahrheit ist nicht etwas Ausgedachtes, sondern ist wirklich, während das mit den gewöhnlichen Augen Gesehene nur ein Teil der Wirklichkeit ist oder sogar ein Fantasiegebilde oder eine Vorspiegelung ist oder sein kann. Dies gilt z. B. für eine Fata Morgana in der Hitze der Wüste, die uns Wasser und eine Oase vorgaukelt, die es gar nicht gibt. Wenn man einer Fata Morgana entgegengeht und ihr näher kommt, löst sie sich auf, weil uns die Augen getäuscht haben. Dies kann man durchaus mit der heutigen medialen Scheinwelt von Film und Fernsehen vergleichen, die meist keinen Wirklichkeitswert haben und noch nicht einmal dem Finger gleichen, der auf die Wahrheit des Mondes zeigt. Denn oft geht es um die Gier der Akteure nach Ruhm und Profit und dabei verlieren die Zuschauer wertvolle Zeit ihres Lebens. Ihr Bewusstsein wird dann von Scheinwirklichkeiten und Scheinbildern besetzt.

Dôgen spricht von seinem eigenen Meister Tendô Nyojô, der seine Schüler durch "Bodhidharmas Auge" zu (wirklichen) Menschen gemacht habe. Die Abbildungen des indischen Meisters Bodhidharma zeigen ihn meist mit sehr großen Augäpfeln, was sicher wiedergibt, dass seine Augen größer als die der Chinesen waren. Darüber hinaus soll dies sicher bedeuten, dass er die Buddha-Augen besaß, weil er erwacht war. Dôgen sagt, dass "jeder Mensch (beim Zazen) mit den Buddha-Augen sitzt“.

Der von ihm verwendete japanische Ausdruck enthält das Wort taza und bildet damit die Brücke zu der wahren Zazen-Praxis Shikantaza, also "einfach nur sitzen". Dies bedeutet im Rahmen dieses Kapitels, mit Buddha-Augen zu sitzen. Dôgen sagt hierzu:

"Dies ist nichts anderes als das kraftvolle Handeln, das die Menschen in der Zazen-Halle schult."
Dann wird noch einmal sein eigener Meister zitiert:
"Ja, das Meer ist trocken bis zum tiefsten Grund und die Wellen schlagen hoch bis zum Himmel."
Damit ist nach Nishijima Roshi gemeint, dass man sich von unerwarteten oder sogar katastrophalen Situationen der Natur nicht beirren lässt, wenn man die Buddha-Augen hat und Zazen praktiziert. Man wird nicht aus dem Gleichgewicht geworfen, wenn das Meer austrocknet und die Wellen zum Himmel schlagen. Davon sollen wir uns daher nicht beirren lassen. Solche äußeren Sensationen haben nichts mit dem Wesentlichen des Buddha-Dharma und den Buddha-Augen zu tun. Derartige Naturkatastrophen und Sensationen sind leider häufig Inhalt unserer Nachrichten im Fernsehen und Radio. Es werden ein paar beeindruckende Bilder von Überschwemmungen, Stürmen, Vulkanausbrüchen und Schneeverwehungen gezeigt, aber dies sind nach Dôgen überhaupt keine wesentlichen Informationen. Sie beirren uns nur und haben keinen Informationswert.

Dôgen zitiert dann seinen eigenen Meister, den ewigen Buddha, mit folgendem Gedicht:

"Gautama verliert seine (bisherigen) Augen
nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee
jetzt sind alle Orte beschwerlich und voller Dornen
und doch lachen die tanzenden Blüten im Frühlingswind."

Dieses Gedicht wurde von Dôgen auch an anderer Stelle im Shôbôgenzô zitiert. Es wird gesagt, dass Gautama Buddha seine alten gewöhnlichen Augen durch das Erwachen verloren hatte und die Welt und Wirklichkeit mit ganz neuen Augen sah, die über die herkömmliche sinnliche Wahrnehmung hinausgehen. Aber die Welt besteht dann nicht nur aus schönen Blüten, wie hier des Pflaumenbaums, sondern sie hat auch Dornen und Beschwerlichkeiten. Diese werfen uns aber nicht um, wenn wir im Gleichgewicht sind und die Buddha-Augen erlangt haben.
Es folgen dann noch weitere Gedichte von Tendô Nyojô:

"Die Sonne im Süden entfernt sich langsam
das Licht der Klarheit strahlt in den Augen
der Atem strömt durch die Nasenlöcher."

Mit dem Atem und den Nasenlöchern ist das pulsierende wahre Leben gemeint.
Die beiden letzten Zeilen des folgenden Gedichtes lauten:

"Ich habe alles gegeben und lache aus vollem Herzen
und überlasse alles dem Belieben des Frühlingswindes."

Dôgen sagt abschließend, dass sich die Kraft und Lebendigkeit des Buddha-Auges je im konkreten Augenblick verwirklicht, dass dies auch die Augen des wirklichen Fliegenwedels der Meister sind. Sie "springen heraus" in den Augenblick und wir geben alles und dies ist der erste Tag. Dôgen sagt damit nichts anderes, als dass wir jeden Augenblick frisch und neu erfahren und erleben können und dass dies die Kraft der Buddha-Augen ist.

Sonntag, 9. März 2008

Die strahlende Klarheit im Buddhismus

Die japanische Bezeichnung dieses Kapitels lautet Komyo (Kap. 36), wobei Ko strahlend und hell bedeutet und myo die Klarheit ist. Im Buddhismus wird eine strahlende Klarheit der ganzen Welt und des Universums gelehrt, an der die Menschen teilnehmen können, wenn sie nach der Lehre von Gautama Buddha erwacht sind.

Im Kloster Tokein


Dann leben sie in der leuchtenden Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Sie verlieren sich nicht in idealistische Träumereien, dass diese Welt ein Paradies oder das Nirwana sein sollte. Materiell orientierte Menschen haben kein Verständnis für religiöse oder idealistische Ziele, sondern erhoffen sich von materiellen Gütern und Reichtum das Glück auf dieser Erde, weil dies das einzig Reale sei. In der buddhistischen Lehre werden zu diesen beiden Lebensdimensionen, die zwar nicht immer falsch, aber einseitig sind, zwei wesentliche Bereiche hinzugefügt: das erfüllte Handeln im Augenblick und das Erwachen oder die Erleuchtung.

Meister Dôgen erklärt in diesem Kapitel, dass das ganze Universum klar und strahlend ist und dass wir durch den Buddha-Dharma und die Übungspraxis daran teilnehmen können, also nicht durch idealistische oder materialistische Anhaftungen isoliert sind. Durch die Lehre des reinen Handelns und des Gleichgewichts im Hier und Jetzt können wir uns also für die strahlende Klarheit öffnen, und unser Körper und Geist erfährt unerwartete Stärkung durch Energien, die wir uns vorher nicht ausdenken konnten und die sich jäh ereignen.
Dôgen zitiert dazu einen großen Meister:

"Das ganze Universum der zehn Richtungen ist die strahlende Klarheit des Selbst.In der strahlenden Klarheit dieses Selbst existiert das ganze Universum der zehn Richtungen. Im ganzen Universum der zehn Richtungen gibt es keinen einzigen Menschen, der nicht dieses Selbst ist."

Nach der alten indischen Lehre hatten das Universum und die Welt zehn Himmelsrichtungen, die hier mit dem Selbst in strahlender Klarheit gleichgesetzt werden. Dieses Selbst ist nicht das abgegrenzte Ich des Egoismus, sondern hat die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden und sich sozusagen zum ganzen Universum hin geöffnet. Bei dieser Öffnung entsteht nach dem obigen Zitat die strahlende Klarheit. Dieses so verstandene Selbst ist in allen Menschen ausnahmslos vorhanden und wirksam.
Es sei erforderlich, diese Buddha-Wahrheit in der Praxis und mit Ausdauer zu erlernen. Wenn man nicht mit Ernsthaftigkeit handelt, entfernt man sich immer mehr von dieser Wahrheit. Dôgen sagt hierzu:

"Es gab nur wenige alte Meister, welche die strahlende Klarheit auf der Grundlage solcher Anstrengungen erforscht und verwirklicht haben."

Der Buddhismus wurde im ersten und zweiten Jahrhundert nach China gebracht. Dort gab es allerdings einige Auseinandersetzungen mit dem bis dahin vorherrschenden Daoismus. Als Meister Bodhidharma dann als authentischer Dharma-Nachfolger in der direkten Nachfolgelinie von Gautama Buddha nach China kam und den Dharma an seinen eigenen Schüler Taiso Eka weitergab, war dies nach Dôgen ein

"historisches Ereignis der strahlenden Klarheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma. Davor hatten die Menschen (in China) die Klarheit der Buddhas und Patriarchen weder gesehen noch davon gehört. Wie hätten sie ihre eigene strahlende Klarheit erkennen können?"

Mit Bodhidharma kam die Praxis eines authentischen Nachfolgers nach China, während vorher nur eine theoretische Lehre vorherrschte, der nach Dôgen die Einheit von Theorie und Praxis fehlte. Die strahlende Klarheit des Buddhismus ist genau diese Verschmelzung von theoretischer Lehre und Praxis des Zazen und Handelns im Alltag. Die strahlende Klarheit ist also keine schöne Vorstellung, kein Wunschdenken, keine Flucht aus der Wirklichkeit und man soll sie sich auch nicht konkretistisch als rotes, weißes, blaues oder goldenes Licht vorstellen. Die Klarheit des Feuers oder des Wassers oder der Glanz einer Perle und das Glitzern eines Diamanten bleiben auf der Ebene der Wahrnehmung hängen und können die umfassende strahlende Klarheit des Buddha-Dharma nicht vollständig beschreiben. Es sei erstaunlich, dass sich manche Menschen diese Klarheit sogar als ein Glühwürmchen vorstellen.
Dôgen sagt dann, dass die Buddhas und Vorfahren im Dharma diese Klarheit praktizieren und erfahren und genau dabei "werden sie Buddha, sitzen als Buddha und erfahren Buddha." Wir sehen, dass Dôgen auch hier die Einheit von strahlender Klarheit und buddhistischer Praxis sowie des Handelns in den Mittelpunkt stellt, das heißt, ohne ein solches Handeln, kann man die strahlende Klarheit nicht erfahren.

Dôgen geht dann auf das Lotus-Sutra ein, in dem es heißt, dass die achtzehntausend Buddhaländer des Ostens von der die strahlende Klarheit erhellt werden. Die Zahl achtzehntausend solle man sich aber nicht abstrakt und losgelöst von der Wirklichkeit vorstellen. Den Osten, wo bekanntlich die Sonne und das Licht aufgehen, darf man sich darüber hinaus nicht nur materiell denken und nicht auf die Wahrnehmung der Sinne beschränken. Denn der hier gemeinte Osten ist überall, wo der Buddha-Dharma lebendig ist, und er existiert nicht zuletzt in uns selbst oder wie Dôgen sagt, "im Inneren des Auges."

Es wird dann eine berühmte Geschichte eines chinesischen Kaisers der Tang-Dynastie berichtet, der Reliquien von Gautama Buddha in seinen Palast gebracht hatte. Es wird erzählt, dass diese Reliquien in der Dunkelheit der Nacht Licht ausstrahlten und die Untergebenen und Karrieristen bei Hofe zu großen Lobeshymnen und Gedichten veranlassten, dass diese strahlende Klarheit des Gautama die grenzenlose Tugend des Kaisers bestätigt. Es gab jedoch einen klar denkenden Dichter und Buddhisten, der sich diesen Schmeicheleien und diesem Wunderglauben nicht anschließen wollte, weil er mit großer Ernsthaftigkeit den Buddha-Dharma studiert und praktiziert hatte. Er wurde vom Kaiser, der deswegen deutlich irritiert war, angesprochen, warum er die strahlende Klarheit der Reliquien nicht mit der weit gerühmten Fähigkeit seiner Dichter-Worte besingen würde. Dieser sagte:

"Buddhas strahlende Klarheit ist nicht blau, gelb, rot oder weiß. Dies hier ist nur das Licht, das irgendein Drachengott bewahrt."

Der Kaiser war über diese Aussage verständlicherweise wenig erfreut und fragte bohrend und drohend:

"Was ist Buddhas Klarheit?"

Der Dichter erkannte schlagartig, dass der Kaiser unfähig war, zu "verstehen", was diese große Klarheit sei und antwortete daher überhaupt nicht. Dies wurde ihm als Aufsässigkeit und Unverschämtheit ausgelegt, sodass er vom Hofe verbannt wurde und seine Karriere damit dort beendet war.
Dôgen lobt die Standhaftigkeit und Aufrichtigkeit dieses Menschen, weil er die Unzulänglichkeit von Worten erkannt hatte, die bewirkt, dass man die strahlende Klarheit nicht jemandem erklären kann, der an Wundergeschichten und Schmeicheleien glaubt. Wir können annehmen, dass die Reliquien in der Nacht phosphorisiert geleuchtet haben, dass dies also einfach und natürlich physikalisch erklärt werden kann. Das Leuchten der Knochen durch den Phosphorglanz kann man keineswegs mit der von Dôgen beschriebenen strahlenden Klarheit gleichsetzen. Diese könne man nur erfahren und erforschen, wenn man ohne Vorurteile und ohne Eigeninteressen dabei ist. Dies bleibt auch so, wenn man wunderbar reden kann und die Sutra des Buddhismus auslegt, als wenn "Blumen vom Himmel regnen." Dôgen sagt hierzu:


"Die wirkliche strahlende Klarheit ist das selbe wie die wahren Dinge (dieser Welt), also die Wurzeln, Stämme, Zweige, Blätter, Blumen, Früchte und deren Licht und deren Farbe."

Dôgen fordert uns auf, dass wir die Aussagen der großen Meister in allen Einzelheiten erfahren und untersuchen sollen und sie in der Wirklichkeit praktizieren. Nur dann ist die strahlende Klarheit wie im obigen Zitat das Selbst, das über das Gewöhnliche und Heilige hinausgeht.
Wenn man die Übungs-Praxis nur als lästiges Hilfsmittel zur Erlangung der wunderbaren Erleuchtung ansieht, trübt man diese strahlende Klarheit. Dieses Thema wird bei Dôgen auch in den Kapiteln über die Zazenpraxis eingehend behandelt und hatte für ihn eine ganz große Bedeutung. Nur zu praktizieren, um für sich selbst die große Erleuchtung zu erlangen, sei dem wahren Buddhismus fremd und moralisch unrein. Das wahre Selbst ist identisch mit dem ganzen Universum, sodass man auch nicht an irgendeinen anderen Ort fliehen kann, an dem es nach dem eigenen Wunschdenken viel schöner und paradiesischer ist als hier.
Dôgen zitiert dann den großen Meister Unmon, der Nachfolger von Meister Seppô war, mit den folgenden Worten:

"Jeder Mensch existiert vollständig mit der strahlenden Klarheit. Wenn er sie sucht, ist sie unsichtbar in der tiefsten Dunkelheit. Was ist diese strahlende Klarheit, die in allen Menschen existiert?"

Da die vor ihm versammelten Mönche nichts antworteten und wohl auch nicht antworten konnten, sagte er selbst:
"Die Mönchshalle, die Buddhahalle, die Küche und die drei Tore."

Dôgen
lobt diese Aussage des Meisters sehr, denn sie sei identisch mit dem wahren Buddha-Dharma, sei keine Spekulation, sondern die Wirklichkeit selbst.
Am Ende des Kapitels beschreibt Dôgen die zitierten Zusammenhänge aus der Sicht der vierten erwachten Lebensphilosophie und stellt mehrere Fragen, die kaum einfach zu beantworten sind. Dabei verwendet er die Dimension der Vorstellung und des Denkens, die wir als Idealismus bezeichnen und die Dimension der Formen und Wahrnehmung, die wir Materialismus nennen. Wichtig ist darüber hinaus das Handeln und die Aufhebung der Trennung von Subjekt und Objekt, zum Beispiel, dass der Meister eine Einheit mit seinen Mönchen bildet.
Schließlich zitiert er den großen Meister Seppô, der zu seinen versammelten Mönchen sagt:

"Vor der Mönchshalle bin ich euch begegnet."

Man muss wissen, dass die Zazen-Halle bei den alten chinesischen Klöstern vor der Mönchshalle liegt, die für die Lehre vorgesehen war. Seppô sagt also, dass er bei der Zazen-Praxis allen Mönchen begegnet ist. Dies ist keine allgemeine abstrakte Aussage, sondern die Wirklichkeit des Augenblicks genau an dem Ort. Es sei jedoch nicht nur auf das Klostergelände selbst und die Zazen-Halle bezogen, sondern umfasst auch die weitere Umgebung, deren Schönheit damals im ganzen Land gerühmt wurde. Dazu gehört die Begegnung im schönen Busho-Pavillon und auf dem sanft geschwungenen Useki-Gipfel.

Aber es habe wenig Sinn, darüber mit vielen Worten zu spekulieren, und so beschreibt Dôgen, dass die Gesprächsteilnehmer umgehend ohne das Thema weiter zu vertiefen, ihrer täglichen Aufgabe nachgehen, der eine ist Meister und geht in seine Räume, und der andere geht in die Zazen-Halle, um zu praktizieren. Und nach Dôgen ist genau dies die strahlende Klarheit, nicht mehr und nicht weniger.

Donnerstag, 6. März 2008

Von der Wahrheit sprechen – auch ohne Worte

Wir alle wissen, dass man viel reden kann, ohne wirklich etwas Wesentliches zu sagen und dass Worte oft sogar die Wirklichkeit verdecken oder verzerren. Dies ist z. B. immer dann der Fall, wenn Interessen im Vordergrund stehen und die Menschen mit den Worten gesteuert, um nicht zu sagen, manipuliert werden sollen. Besonders häufig kommt dies im Bereich der Politik und Wirtschaft vor, weil dort meist ein angestrebter eigener Vorteil, der aber nicht ausgesprochen wird, wirksam ist und es nicht um eine ausgewogene Darstellung und sachgerechte Information handelt. Wie Jürgen Habermas formuliert hat, kann dies auch steuerndes Moment in der Wissenschaft und Philosophie sein, und er nennt es "Erkenntnis leitendes Interesse". Trotzdem ist die Sprache selbstverständlich ein außerordentlich wichtiges Mittel auf dem Weg des Buddha-Dharma, den Dôgen oft als Wahrheit oder Wirklichkeit bezeichnet.
In dem Kapitel "Das Sprechen von der Wahrheit" (Kap. 39 Dôtoku) behandelt Dôgen, dass es sehr wichtig ist, die buddhistische Lehre genau und überzeugend zu übermitteln. Er zeigt aber auch die Grenzen der Sprache auf und erklärt, wie man auch ohne Worte die große Wahrheit des Gautama Buddha ausdrücken kann.
Das japanische Wort Dôtoku besteht aus zwei Teilen, nämlich mit der Bedeutung „etwas ausdrücken“ und toku, das vor allem bedeutet, zur Wahrheit zu erwachen. Wenn wir erwacht sind, leben und handeln wir im Gleichgewicht. Dies wird vor allem in der Zazen-Praxis geübt, denn in jedem Augenblick, in dem wir beim Sitzen in unserer Mitte, also im Gleichgewicht, sind, ereignet sich die erste Erleuchtung.
Dôgen sagt am Anfang des Kapitels:

"Alle Buddhas und Vorfahren im Dharma sind das Sprechen von der Wahrheit. Weil sie jeweils ihre Nachfolger auswählen, fragen sie diese immer, ob sie die Wahrheit schon erlangt und ausgesprochen haben oder nicht." Und weiter: "Wer kein Buddha oder Vorfahre im Dharma ist, stellt eine solche Frage nicht und spricht nicht von der Wahrheit, weil er sie nicht hat."

Dôgen erläutert, dass Mitläufer und Ja-Sager die Wahrheit nicht ausdrücken können, weil sie kein eigenes Verständnis und keine eigene Erfahrung des Buddha-Dharma haben. Es dauert nämlich oft dreißig oder vierzig Jahre, bis jemand nach ausdauernder Zazen-Praxis und intensivem Studium der Lehre fähig ist, die Wahrheit zu sagen oder auf andere Weise, z. B. durch Gesten oder seinen Gesichtsausdruck, weiterzugeben. Das Reden muss immer im Einklang mit dem Handeln und dem ganzheitlichen Körper-Geist des Menschen sein. Sicher vertrauen wir oft zu leichtfertig auf die gesagten Worte und werden so in die Irre geführt oder sogar betrogen. Die Wahrheit ist identisch mit dem Gesetz des Universums und mit der Moral. Darin drückt sich das positive Weltbild des Buddhismus aus, das von einer Harmonie und Echtheit der Welt ausgeht, in der das Unrechte sozusagen künstlich erzeugt wird, indem falsch gehandelt wird. Im Buddhismus glauben wir daher nicht daran, dass der Mensch von Natur aus böse und gefährlich ist und durch Disziplin und Strafandrohung zum richtigen Denken und Handeln gezwungen werden muss.

Die Wirklichkeit der Welt zeigt uns natürlich, dass wir nicht im Paradies oder Nirwana leben und dass wir ins Unglück geraten müssen, wenn wir uns in paradiesische Fantasiewelten flüchten. In einem anderen Kapitel hat Dôgen übrigens ausgeführt, dass es Träume gibt, die diese Wahrheiten oft besser erfassen als das Tagesbewusstsein.

Wer jetzt in diesem Augenblick die Wahrheit spricht, vereint sein Reden von früher mit dem jetzigen. Damit kommt Dôgen auf den Augenblick des Hier und Jetzt zu sprechen, weil die umfassende Wahrheit von Körper und Geist genau in der Gegenwart da ist und gesagt werden kann. Er ermahnt uns, dass wir uns selbst sehr genau beobachten, ob die jetzige Rede von früheren Worten abweicht oder nicht. Er sagt, dass man durch ausdauerndes Üben schließlich alle Anstrengungen abstreifen kann, sodass "die Haut, das Fleisch, die Knochen und das Mark der Befreiung "erkannt und gesagt werden. Dann sind Wille und Bemühen identisch mit dem Handeln und Sprechen und die Gier nach Vorteil, Ruhm und Profit hat sich aufgelöst. Dies ereignet sich manchmal auch entgegen der eigenen Erwartung, die als dumpfe Absicht den Buddhaweg hemmen und blockieren kann. Dôgen sagt:

"Wenn ihr diese höchste Ebene jenseits der Worte noch nicht selbst erfahren habt, habt ihr nicht das wahre Gesicht der Buddhas und Vorfahren im Dharma und nicht ihre Knochen und ihr Mark. Selbst wenn ihr erkennen könnt, dass das Sprechen von der Wahrheit wirklich das Sprechen von der Wahrheit ist."

Er führt dann mehrere Beispiele aus der buddhistischen Geschichte an, wo das Wesentliche ohne Worte ausgedrückt wurde, z. B. als der Nachfolger von Bodhidharma, Taiso Eka, drei Niederwerfungen machte und keine Worte sagte. Bei ihm gäbe es trotzdem das Sprechen von der Wahrheit. So gibt es nicht zuletzt den wesentlichen Bereich der Wahrheit, der über das Sprechen hinausgeht.
Dôgen zitiert dann den großen Meister Joshu:

"Wenn ihr ein Leben lang das Kloster nicht verlasst und fünf oder zehn Jahre lang unbeweglich sitzt und kein Wort redet, wird euch niemand als stumm bezeichnen."

Er will damit sagen, dass dem kundigen Betrachter sofort klar ist, ob jemand überhaupt nicht reden kann, also stumm ist oder ob er ohne Worte mehr sagt, als manche geschwätzige Menschen leisten können. In dem obigen Zitat wird der große Wert der Zazen-Praxis des Sitzens betont, in der man egozentrische Gedanken und Gefühle abschüttelt und "Körper und Geist fallen lässt." Ähnlich wie in einem Traum, aber bei klarem Bewusstsein, wird die begrenzte Ebene des Redens und Denkens dabei verlassen. Das Kloster wird so zum "strahlenden Verbindungsweg", zum Buddha-Dharma und zum Erwachen, ohne dass geografisch große Strecken zu anderen Orten zurückgelegt werden müssen. Beim stummen Sitzen lenkt man das Licht nach innen, durchstößt seine Ich-Grenzen und damit öffnet sich "das Tor des Friedens und der Freude zum Dharma." Dôgen sagt in diesem Zusammenhang:

"Nicht zu reden bedeutet, dass ihr von Anfang bis Ende richtig von der Wahrheit sprecht."
Er schätzt die Zazen-Praxis außerordentlich und sagt, dass man sie mit den Augen der üblichen Wahrnehmung überhaupt nicht erkennen kann:
"In Wirklichkeit können selbst Buddha-Augen dieses unbewegliche Sitzen, bei dem man nicht spricht, nicht erblicken."


Wenn man sich voll und ganz auf den Buddhaweg begeben hat und im Kloster dem Alltag und seinen Übungen nachgeht, sei dies dasselbe als wenn man ohne zu reden niemals die Wahrheit verlässt. Auf diese Weise drückt man die Wahrheit durch das Nicht-Sprechen aus. Wie begegnet man aber Menschen, die die Wahrheit ohne Worte ausdrücken, also stumm sind? Dôgen rät uns, dass wir uns mit solchen Fragen beschäftigen, sie zu durchdringen und sie dann wieder loszulassen.

Er zitiert dann ein bekanntes Koan des großen Meisters Seppô, das auch im Shinji-Shôbôgenzô (Buch 2, Nr. 83) wiedergegeben und kommentiert wird. Es handelt von einem Mönch, der einsam in der Nähe des Klosters lebte und sich eine Hütte aus Stroh und Binsen erbaut hatte. Obgleich er ein Mönch war, rasierte er sich niemals den Kopf. Er hatte sich eine Holzkelle mit einem besonders langen Stiel geschnitzt, weil er das Wasser zum Trinken aus einer tiefen Schlucht schöpfen musste und ohne einen solchen Stiel überhaupt nicht das Wasser erreichen konnte. Wir können sicher annehmen, dass das Schöpfen des klaren Trinkwassers ein Gleichnis für das Erlangen der Wahrheit bedeuten kann und dass der Mönch sich in den Bergen sein einfaches Leben gut eingerichtet hatte.
Meister Seppô hatte von diesem Mönch gehört und wollte wissen, was es mit diesem auf sich hätte. Er schickte daher einen seiner eigenen Mönche als Bote zu ihm und dieser stellte die bekannte Frage:
"Was war die Absicht des alten Vorfahren im Dharma, der vom Westen kam?"
Der Meister der einsamen Hütte antwortete im typischen Stil des Zen:
"Die Schlucht ist tief und der Stiel meiner Kelle lang."

Er hatte dem Boten Meister Seppôs damit unmissverständlich erklärt, dass es keinen Sinn habe, spekulative Fragen über Meister Bodhidharma zu stellen und Antworten zu geben und die Zeit mit Rede und Gegenrede zu verschwenden. Es ginge darum, einfach und direkt im Hier und Jetzt zu handeln und dadurch den Buddha-Dharma zu praktizieren.
Als der Bote zu Meister Seppô zurück gekehrt war und von dem Hütten-Meister berichtete, war er sehr beeindruckt und wollte diesen unbedingt selbst kennenlernen um festzustellen, ob er zur Wahrheit erwacht war oder nicht. Wegen der unrasierten Haare des Hütten-Meisters nahm er ein Rasiermesser mit und machte sich auf den Weg.

Vor der Hütte begegneten sich dann die beiden ungleichen Meister. Seppô leitete ein im ganzen Lande berühmtes Kloster, hatte viele Mönche und Schüler und Dôgen bezeichnet ihn häufig als ewigen Buddha. Seine Koan-Gespräche z. B. mit Meister Gensa sind in die Zen-Geschichte eingegangen und haben bis heute nichts von ihrer Kraft und ihrem tiefgründigen Zauber verloren. Auf der anderen Seite gab es den Hütten-Meister, ein einsamer Sucher nach der Wahrheit, der keine Schüler hatte und unter einfachsten Bedingungen in der Natur lebte. Der Rhythmus des Jahres und der große Akkord des Universums hatten sich mit ihm dort verbunden und sicher legte er auf sein Äußeres keinen großen Wert. Er war wegen seiner unrasierten Haare nicht einmal als buddhistischer Mönch zu erkennen. Seppô war gekommen um ihn zu testen und fragte:

"Sag was du erlangt hast und ich werde dir den Kopf nicht rasieren."

Bei dieser Begegnung hatten sich die beiden Männer bereits klar in die Augen gesehen und erkannt, dass es keine Trennung von ich und du gab. Seppô wusste sicher intuitiv, dass der Hütten-Meister in der Wahrheit angekommen war, sodass seine Frage eigentlich schon beantwortet war. In diesem Fall wollte er nämlich den einsamen Meister nicht rasieren und auch sein Äußeres so lassen, wie es war. Der Hütten-Meister erkannte im selben Augenblick mit intuitiver Klarheit, dass hier Worte Fehl am Platze waren und sagte daher nichts. Dieser Augenblick ging in der Tat über alle Worte hinaus.
In tiefem Einverständnis mit Seppô verschwand er in seiner Hütte, wusch sich die Haare und ließ sich den Kopf rasieren. So wurde der Dharma ohne weitere Worte von Seppô auf den Hütten-Meister übertragen und wir können sicher annehmen, dass diese beiden großen Meister sich der Einzigartigkeit des Augenblicks bewusst waren, der wie die Zazen-Praxis "den Himmel durchstieß". Dôgen kommentiert Meister Seppôs Frage wie folgt:

"Wenn die Menschen, die niemals die Wahrheit ausgesprochen haben, dies hören, werden die Kraftvollen sich wundern und die Kraftlosen werden sprachlos sein. Seppô fragte nicht nach Buddha, sprach nicht vom Weg und fragte nicht nach dem Samadhi oder den Dharanis. Seine Frage ist zwar einer Frage ähnlich, aber sie ist eher eine Wahrheit."

Dôgen lobt im Folgenden diese großartige Begegnung zweier Meister und sagt, dass sich hier ein Körper offenbart hat, der Dharma verkündet wurde und alle Lebewesen gerettet würden. Ein Kopf wurde gewaschen und dies kann als Gleichnis verstanden werden, dass der Geist gereinigt wurde und dass der Schädel nicht mehr die Grenze des subjektiven Denkens war. In dieser Begegnung werden von dem einen Meister Worte verwendet, die durch ihre „Worthülsen“ hindurch dem anderen Meister direkt begegnen. Dieser antwortet aber nicht mit Worten, sondern durch unmittelbares Handeln, und dies ermöglicht und vollendet die Begegnung der beiden großen Meister.
Dôgen sagt am Ende dieses Kapitels:

"Unter Freunden, welche die Wahrheit nicht (mit Worten) sagen, ist es möglich sich selbst zu erkennen, auch wenn sie dies nicht erwarten. Wenn ihr euch selbst erkennt, indem ihr euch erfahrt und erforscht, verwirklicht sich das Sprechen von der Wahrheit."