Montag, 31. August 2009

Das Gleichnis des intuitiven Verstehens und Handelns, Saindhava (Ōsaku sendaba), Teil 4

Dōgen zitiert im Folgenden eine bekannte Kōan-Geschichte, in der Meister Nansen einen seiner Mönche bittet, etwas ganz Unmögliches zu tun. Er soll dem Meister nämlich ein Gefäß mit Wasser bringen, ohne das Gefäß mit dem Wasser überhaupt zu ergreifen und zu bewegen. Zweifellos ist dies rein physikalisch betrachtet eine unlösbare Aufgabe, die man zwar denken und mit Worten ausdrücken, aber nicht in die Wirklichkeit umsetzen kann.

Nishijima Roshi sieht in dieser Bitte einen Test für den Mönch: Ist er so weit in der Wirklichkeit verwurzelt, dass er diese unmögliche Bitte erkennt? Trotz der Loyalität gegenüber dem Meister kann er den Auftrag nicht ausführen, weil die physikalische Realität dies nicht zulässt.


In der Kōan-Geschichte entscheidet sich der Mönch so, dass er Nansen das Gefäß mit Wasser zwar bringt, dieses aber ausschüttet und es dabei belässt. Der Meister ist mit dem Handeln seines Schülers sehr zufrieden. Der Mönch hat den Test also bestanden, obgleich er tatsächlich gegen die durch Worte ausgedrückte Bitte verstoßen hat.


Diese Kōan-Geschichte macht die Tatsachen der Wirklichkeit deutlich, die von den in Worten gefassten Bitten und Anweisungen grundsätzlich abweichen können. Im Zen-Buddhismus gebührt der Wirklichkeit des Handelns in der betreffenden Situation der Vorrang vor Reden und Denken.


Dōgen untersucht im Hinblick auf das Lehren des Wirklichen die Bitte und das Geben von Saindhava weiter. Das Dunkle und Falsche, das vor allem im Denken und Fühlen angesiedelt ist, sollte bei den Schülern vorsichtig beschrieben und offengelegt werden, damit diese leichter lernen können. Er verwendet einen interessanten Vergleich mit der Koto, einem japanischen Saiteninstrument, das einer Harfe des Westens gleicht, aber anders gestimmt wird.


Die Koto hat für jede Saite zwei bewegliche Stege, auf denen die schwingende Saite aufliegt. Die Stege können jeweils so verschoben werden, dass die richtige Tonlage für das Spiel entsteht. Damit das Instrument korrekt gestimmt ist, müssen diese beweglichen Stege ganz genau eingestellt werden. Wären sie fest verleimt, könnte das Instrument also überhaupt nicht gestimmt werden. Dōgen vergleicht diese Beweglichkeit mit dem Saindhava, das erbeten und gegeben wird, und erläutert:


„Die 24 Stunden (des Tages) benutzen zu können, ist dasselbe, wie Saindhava zu erbitten. Von den 24 Stunden benutzt zu werden, ist (auch) dasselbe, wie Saindhava zu erbitten. Wir sollten Tatkraft (wörtlich: Faust) erbitten und sollten Tatkraft geben.“


Diese Aussage bedeutet, dass wir im normalen Alltag mit nicht eindeutigen Worten reden, fragen und bitten, in der Hoffnung, dass der andere trotzdem versteht, was wir benötigen oder sagen wollen. Unsere Umgebung erfordert von uns, dass wir situationsgerecht handeln, und dabei sind die benutzten Worte immer etwas unbestimmt.


Dies gilt nicht zuletzt für das Handeln und die Tatkraft, die wir einerseits erbitten und andererseits anbieten und geben, je nach Situation und intuitivem Verstehen. Dōgen bedauert, dass es im damaligen China der Song-Zeit nur ganz wenige Meister gab, die den Zustand von Saindhava verwirklicht hatten.


Auch der bekannte Satz, „Der Geist hier und jetzt ist Buddha.“, besteht aus Begriffen, die nicht so eindeutig sind, wie wir vielleicht zunächst annehmen. Wie an anderer Stelle dargelegt, bedeuten diese Worte, dass der Geist nicht abstrakt und absolut verstanden werden kann, sondern dass es im Hier und Jetzt um das ganzheitliche buddhistische Handeln im Gleichgewicht geht. Dies ist der wahre Geist, der keineswegs vom Körper isoliert werden kann.


Eine wichtige Rolle spielt nach Dōgen das Saindhava-Gleichnis vom Bitten und Geben in wechselseitiger Übereinstimmung auch für die Lehrtätigkeit der buddhistischen Meister. Dabei verwenden diese bewusst falsches Verhalten und bestimmte Situationen, die aufzeigen sollen, was buddhistisch nicht korrekt ist. Es geht immer um den Lernprozess der Schüler, um zur Wirklichkeit zu gelangen.


Dies wird von Dōgen als „das gelbe Lehren“ bezeichnet, wobei das Gelbe für die buddhistische Wahrheit und Wirklichkeit steht.Wenn ein wahrer Meister um Salz gebeten wird, kann er laut dem Kōan dem Bittenden ein Pferd geben. Was bedeutet das? Das Salz wird vom Schüler nur erbeten, um seine Speise zu verbessern, aber mit dem vom Meister erhaltenen Pferd eröffnen sich für ihn auf dem Buddha-Weg neue, ungeahnte Möglichkeiten. Der Meister gibt damit mehr als der Bitte des Schülers entspricht.

Samstag, 22. August 2009

Das Gleichnis des intuitiven Verstehens und Handelns, Saindhava (Ōsaku sendaba),Teil 3

Es wird Tendō Nyojōs Lehrer, Meister Wanshi, zitiert, der Folgendes lehrte:
„Ein Mönch fragte Jōshū: ‚Wie ist es, wenn ein König Saindhava erbittet?’ Jōshū (antwortete nicht mit Worten, sondern) verbeugte sich mit aufeinandergelegten Händen (Shashu).“
Ein späterer Meister kommentierte Jōshūs Verhalten wie folgt: „Es war die Bitte um Salz und das Geben eines Pferdes.“
Der große Meister Wanshi fügte noch hinzu, dass die Interpretation dieser Begebenheiten von ganz großer Bedeutung sei und dass wir nicht im Geringsten davon abweichen sollten. Wie können wir uns das Verhalten von Meister Jōshū erklären?

Er veranschaulicht, dass man mit Worten allein Saindhava nicht erschöpfend beschreiben kann. Durch seine Verbeugung wird zum Beispiel die Wertschätzung des anderen für das gemeinsame Handeln ausgedrückt. Damit ist die wichtige moralische und humanistische Dimension angesprochen. Außerdem will Jōshū mit der Verbeugung das intuitive Verständnis des Dieners für die Bitte des Königs darstellen.

Der zweite Meister verdeutlicht die Einheit des Handelns desjenigen, der um etwas bittet, und des anderen, der diese Bitte erfüllt. Die beiden Akteure erreichen mit ihrem wechselseitig aufeinander bezogenen Handeln eine Einheit in der Wirklichkeit des Augenblicks.
Schließlich erläutert Dōgen sein eigenes Verständnis des Saindhava-Gleichnisses: Die vier Produkte des Indus-Beckens kann man zunächst als Objekte verstehen, die von dem Menschen als Subjekt, das um die Produkte bittet, getrennt sind. Aber diese Trennung wird überwunden, indem die Wirklichkeit im Augenblick erlangt wird. Dōgen ergänzt noch einen weiteren Aspekt:

„Der Welt-Geehrte bittet um Saindhava und Mahākāshyapas Gesicht erhellte sich zu einem Lächeln.“

Damit wird im höchsten Zustand des Erwachens die tiefere Bedeutung der Bitte und des Erfüllens der Bitte deutlich gemacht. Mit dem Lächeln des ersten Nachfolgers von Gautama Buddha begann die Geschichte des Buddhismus und die Übertragung von einem Meister zum anderen. Für die buddhistische Praxis und Lehre ist es der zentrale Augenblick, wenn Dōgen das Gleichnis des Saindhava mit der Begebenheit des Erwachens gleichsetzt. Er kommt dann auf Meister Bodhidharma zu sprechen:

„Der erste Vorfahre im Dharma (in China) erbittet Saindhava und seine vier Schüler dienten mit einem Pferd, mit Salz, Wasser und einem Behälter. Wir sollten diesen äußerst wichtigen Zustand erlernen, in dem wir das Pferd bereitstellen oder das Wasser geben. Genau in dem Augenblick werden die Bitte um Saindhava, ein Pferd, das Salz, das Wasser oder ein Behälter zu einer Einheit (objektive Dinge und subjektive Funktionen).“

Mit diesen Worten unterstreicht Dōgen das Handeln im Augenblick, bei dem Subjekt und Objekt zu einer Einheit verschmelzen und damit die Wirklichkeit selbst sind. Die subjektive Bitte, die erbetenen Objekte, das Handeln, der Bittende und derjenige, der die Bitte erfüllt, bilden in der Wirklichkeit eine unauflösbare Einheit. So wird der Dualismus überwunden, der für zentrale, spirituelle Existenzfragen und das Erwachen nur unzureichende Antworten bietet.

Mittwoch, 5. August 2009

Das Gleichnis des intuitiven Verstehens und Handelns, Saindhava (Ōsaku sendaba),Teil 2


Wir greifen noch einmal die eingangs gestellten Fragen auf: Wie ist es möglich, dass sich die Menschen in einer bestimmten Situation trotzdem verstehen? Wie gelingt es ihnen, in der Praxis richtig und wechselseitig „passend“ zu handeln? Von Dōgen können wir mit Recht erwarten, dass er uns auf der Grundlage der wahren Lehre Gautama Buddhas dafür brauchbare Lösungen anbietet, mit deren Hilfe wir unser Leben glücklicher, klarer und mit weniger Leiden gestalten können. Er zitiert folgendes Gedicht:

„Worte – keine Worte,
Wirkliche Glyzinien und wirkliche Bäume,
Die Esel füttern, die Pferde füttern,
Klares Wasser und durchsichtige Wolken.“

Nishijima Roshi interpretiert diese Zeilen im Sinne der vier buddhistischen Lebensphilosophien, also der Ideen, der materiellen Realität, des Handelns und des höchsten Zustandes des Erwachens. Die Worte unserer Sprache gehören der Welt und Lebensphilosophie der Ideen und der Sprache an. Dies verdeutlicht die erste Zeile: „Worte – keine Worte“.
Danach müssen wir zur nächsten Lebensdimension der materiellen Realität kommen, also zur Dimension der Dinge und Phänomene. Sie wird durch die Glyzinie angesprochen, die als Rankengewächs einen Baum oder eine andere Unterlage benötigt, um zu wachsen und zu blühen. Im alten China gehörte es zum Tagesgeschäft, mit Sorgfalt die Esel und Pferde zu füttern. Dieses wichtige Handeln im Alltag ermöglichte es, dass Menschen und Tiere überlebten.
Klares Wasser und transparente ziehende Wolken werden im Buddhismus häufig als Metapher für den höchsten Zustand der Erleuchtung und Befreiung verwendet. Sie sind die Wirklichkeit selbst und dabei wird nichts Künstliches hinzugesetzt und nichts Wirkliches weggenommen. Die Wirklichkeit ist so, wie sie ist.
Dōgen zitiert dann Gautama Buddha aus dem großen Pari-Nirvāna-Sūtra:

„(...) bringe Saindhava! Saindhava ist ein (einziges) Wort für vier (verschiedene) Produkte. Das erste ist Salz, das zweite sind Gefäße, das dritte ist Wasser und das vierte sind Pferde. Diese vier Sachen haben alle dieselbe Bezeichnung. (Aber) ein weiser Diener ist in der Lage, (die Bedeutung) dieses Wortes (richtig) zu verstehen.“

In diesem gleichnishaften Zitat ist auch ein gewisser Handlungsablauf enthalten: Zum Essen benötigt man Salz, nach dem Essen möchte man Wasser trinken, und wenn der König fortreiten will, braucht er ein Pferd. Obgleich der König diese verschiedenen Wünsche durch dasselbe Wort Saindhava ausdrückt, weiß sein Diener, was er jeweils damit meint. Natürlich kommt ihm dabei auch seine Erfahrung im Umgang mit dem König und dessen Tagesablauf zugute, denn manches ergibt sich aus dem Augenblick der jeweiligen Situation.
Dōgen betont, dass ein ähnliches Handeln bei jedem von uns in der Praxis zu verwirklichen ist, also im eigenen Leben umgesetzt werden sollte. Wichtig ist dabei, dass man je nach Situation rasch und tatkräftig mit dem Handeln beginnt, unabhängig davon, in welchem Zustand sich unser Körper und Geist befinden. Dōgen hebt hervor:

„Diese Bitte des Königs um Saindhava, zusammen damit, dass der Diener Saindhava bringt, ist seit langer Zeit bis zu uns weitergegeben worden. Sie wurden normalerweise zusammen mit dem Dharma-Gewand übermittelt.“

Damit verweist er auf die enge Beziehung dieses Gleichnisses, also der Bitte und deren Erfüllung durch entsprechendes Handeln, und der Lehre des Buddhismus. Es sei so bedeutend wie das Dharma-Gewand und stellt seit der Zeit Buddhas ein wichtiges Gesprächs- und Lehrthema dar, das auch von seinen Nachfolgern immer wieder behandelt wird. Dōgen fährt fort:

„Wir können vermuten, dass diejenigen, die denselben Zustand wie den des Welt-Geehrten selbst erfahren haben, Saindhava zu ihrer eigenen Praxis gemacht haben.“

Mit dieser Aussage unterstreicht er erneut seine große Wertschätzung des Saindhava, also des wechselseitigen Handelns zweier Menschen, bei dem einer um etwas bittet und der andere diese Bitte gerne erfüllt. Die hierarchische Beziehung des Königs und seines Dieners tritt hier in den Hintergrund, denn es geht Dōgen nicht um den Befehl und den unbedingten Gehorsam, sondern er betont die enge, vertrauensvolle Übereinstimmung der beiden Handelnden in einer komplexen, vieldeutigen Welt mit ungenauen sprachlichen Begriffen. Dieses Handeln kann nur bei intuitivem Verständnis, gegenseitiger Hochachtung und wechselseitigem Wohlwollen in Übereinstimmung und Harmonie gebracht werden. Dazu führt Dōgen aus:

„Für jene, die nicht im selben Zustand wie der Welt-Geehrte sind (sage ich): Wenn du irgendwelche Strohsandalen kaufst und zu Fuß einen Schritt vorwärts gehst, hast du schon (Saindhava) bekommen!“

Damit möchte er wohl ausdrücken, dass wir uns auf den Buddha-Weg begeben, indem wir wie im alten China und Japan die Schuhe (Strohsandalen) besorgen und dann auf diesem Weg immer einen Schritt weiter nach vorne gehen. Dadurch sei das Wesentliche bereits begonnen. Ebenso ist es mit der Zazen-Praxis: Indem wir uns in der richtigen Sitzhaltung auf das Kissen niederlassen, haben wir bereits den wichtigsten Schritt getan. Denn nach Nishijima Roshi ist das sitzende Handeln im Zazen schon die erste Erleuchtung und wir lassen dabei Körper und Geist fallen und sitzen ganz in der Wirklichkeit.