Montag, 14. November 2011

Gibt es das wahre Selbst ohne die Zeit?

Nishijima Roshi rät uns immer ganz genau hinzusehen:


„Weil alle Dinge und Phänomene genau so existieren, wie sie sind, sollten wir durch die (praktische) Erfahrung studieren, dass (sehr) verschiedenartige Phänomene und viele Dinge auf der Erde existieren“.


Im ZEN-Buddhismus ist das echte Handeln in unserem Leben von zentraler Bedeutung. Daher fährt er fort:


„Die Existenz von uns selbst ist die Existenz unseres Handelns (im Augenblick der Zeit) und daher ist es sonnenklar, dass wir genau selbst Zeit sind.“


Er bringt damit das Handeln im Augenblick ein und stellt fest, dass die wahre Existenz unser offenes Selbst ist, also unser freies Leben im Gleichgewicht: Nicht das egoistische verkrampfte Ich, das allein auf sich konzentriert ist, das unbedingt etwas haben will oder andere hasst und ablehnt. Das bedeutet, dass Dōgen den Menschen in seiner Wirklichkeit durch dessen Handeln im jeweiligen Augenblick beschreibt. Das ist ein radikaler Paradigmenwechsel weg von der Person hin zur Handlung. Die Vorstellungen und vorgefassten Meinungen über „den Menschen“ sind demnach eine grobe Abstraktion und missachten seine einzelnen wirklichen Handlungen und Handlungselementen. Solche Vorstellungen sind meistens weit von der Wirklichkeit entfernt und oft ganz falsch. Daran sollten wir uns immer wieder erinnern!

Auch die moderne Psychologie betont die große Vielfältigkeit des Menschen, der in bestimmten Situationen und bei bestimmten Handlungen sehr unterschiedliche Seiten zeigen kann. Eine monolithische Einheitlichkeit eines Charakters oder der Psyche des Menschen ist daher eine gedachte Fiktion und Täuschung, die oft eher zu Verwirrungen und Fehleinschätzungen führen, als dass sie weiterhelfen. Erschwerend kommt dann häufig noch hinzu, dass man das eingebildete, auf sich selbst bezogene Ich mit dem wahren offenen Selbst verwechselt.


Eine Handlung findet immer im Augenblick statt. Sie ist auch für den gesunden Menschenverstand ohne die Existenz-Zeit undenkbar. Die angebliche Konstanz eines Menschen im Ablauf der Zeit erweist sich schon durch diese einfache Überlegung als falsch: die Handlungs-Augenblicke sind das Wesentliche des Menschen.


Aber wir sollten unsere Erwartungen nicht zu hoch schrauben:
Solches Hin und Her ist ein erster Schritt (auf dem Weg) der Praxis. Wenn wir im Bereich des Unfassbaren ankommen, gibt es hier und jetzt genau (ein) konkretes Ding und ein (konkretes) Phänomen. Diese sind (jenseits) des intellektuellen Verstehens der Phänomene und Dinge und sind (jenseits) des Nicht-Verstehens“


Das Leben besteht aus vielfältigen Bewegungen, aus oft ungeordnetem scheinbaren oder wirklichen Durcheinander, aus Kommen und Gehen: Das meint Dōgen mit dem „Hin und Her“. Aber das ist der Anfang der Übungspraxis, durch die wir in eine neue Phase unseres Lebens eintreten; zum Beispiel wenn wir den klaren Entschluss gefasst haben, uns auf den Weg des Buddha-Dharma und der Wahrheit zu begeben. Wir erkennen dann auch, dass Denken und Worte eine bestimmte Grenze haben, die mit dem unterscheidenden Verstand allein nicht überschritten werden kann. Die große Wahrheit und überhaupt die wirklichen Dinge und Phänomene dieser Welt sind letztlich mit dem Denken niemals vollständig fassbar. Sie sind eine Wirklichkeit, die über unser Denken und unsere Emotionen hinausgeht, was sich zum Beispiel beim Bodhisattva-Handeln zeigt. Sie benötigen eine geschulte intuitive Vernunft im Augenblick.


Dōgen beschreibt auch an anderer Stelle, dass der Geist und damit die Einheit von Körper-und-Geist intellektuell nicht erfasst werden können. Nishijima Roshi bezeichnet dies als das „höchste Unfassbare“ und schreibt dazu:


„Ein solches Kommen und Gehen ist der Anfangspunkt der Praxis. Im Falle des Ankommens beim höchsten Unfassbaren ist die Situation jedoch unteilbar genau eine Sache oder ein Phänomen. Dies ist das (wahre) Verstehen jenseits des „Verstehens“. Oder es ist das (wirklich) Verstehen eines Dinges jenseits eines (vorgestellten) Dinges.“


Das unterscheidende Denken ist daher für die große spirituelle Wirklichkeit unbrauchbar und der Dualismus wird im höchsten Zustand außer Kraft gesetzt. Wahres Leben und Zeit sind im Augenblick zu einer Einheit verschmolzen. Das macht frei und gibt Energie.