Montag, 31. Oktober 2011

Im Einklang mit den Gesetzen des Universums

Dōgen geht es nun im Zusammenhang mit der Sein-Zeit und dem Augenblick um Ordnung, aber nicht im alltäglichen Sinne, sondern um eine ganz besondere für uns wichtige Ordnung: die des Universums und des Lebens.

„Wir bringen uns selbst in Ordnung und sehen (den entstandenen Zustand) wie das ganze Universum. Jeder einzelne Mensch und jedes Objekt in diesem ganzen Universum sollten als einzelner Augenblick der Zeit erblickt werden.“

Was meint er damit? Er unterstreicht mit diesen Sätzen nachdrücklich, dass jeder Mensch und jede Sache als Augenblick oder Zeitpunkt, also Sein-Zeit, angesehen werden sollten. Die heißt in der Gegenwart ganz präsent zu sein, in jedem wertvollen Augenblick! In unserem Leben ordnen wir durch die wesentlichen, spirituellen Augenblicke uns selbst und betrachten dies mit Recht als die Welt und das Universum.

Alles innerhalb dieses Universums sollten wir als Augenblicke der Zeit sehen und verstehen. Das Universum hat nach Dōgen genau die natürliche Ordnung wie wir selbst. Nishijima sagt dazu:

„Ich bin geordnet wie das Universum und jeder Mensch und jedes Ding sind genau dasselbe wie jede einzelne Zeit.“

Nach Dōgen bedeutet Erleuchtung, dass wir mit den Gesetzen des Universums im Einklang sind, uns also in derselben Weise ordnen. Als Anschauung für die einzelnen Augenblicke wählt er die Objekte der Welt

„Ein Objekt behindert nicht ein (anderes) Objekt, genau wie ein Augenblick der Zeit keinen (anderen) Augenblick der Zeit behindert. Aus diesem Grund gibt es Entschlüsse des Geistes, die im selben Augenblick der Zeit gefasst werden, und es gibt Augenblicke der Zeit, in denen derselbe Entschluss des Geistes gefasst wird. Mit der Praxis und Verwirklichung der Wahrheit verhält es sich ebenso.“

Hier vergleicht Dōgen die Unabhängigkeit der Augenblicke der Zeit mit der Unabhängigkeit von einzelnen Objekten. Er wendet die Lebensphilosophie des Augenblicks auf unseren Entschluss an, nach der Wahrheit zu streben und somit den Weg des Buddha-Dharma zu beginnen. In anderen Kapiteln behandelt er im Einzelnen, wie wichtig es ist, den Willen zur Wahrheit zu erwecken und den Entschluss zu fassen, den Buddha-Weg zu gehen. Er hebt in den obigen Zeilen hervor, dass dieser fundamentale Entschluss zur Wahrheit bei mehreren Menschen genau im selben Augenblick gefasst werden kann. Das gelte auch für die Praxis und das Erreichen der Wahrheit. Damit ist vor allem die Übungspraxis des Zazen und das Erlangen der buddhistischen Wahrheit, also die Erleuchtung oder das Erwachen, gemeint.

Kurz und bündig: Im Mittelpunkt steht die Entscheidung für den Weg der Wahrheit, den Buddha-Weg Augenblick für Augenblick zu gehen; sei es allein oder mit anderen zusammen.

Montag, 24. Oktober 2011

Aus dem Zeitzwang zum wahren Erleben

Dōgen wendet sich dem Problem der Bestimmung nach Maß und Zahl der zwölf beziehungsweise 24 Stunden für die Zeit zu. Er will den Unterschied der wirklich wesentlichen Augenblicke in unserem Leben und der formalen Zeit herausarbeiten, an die wir uns leider so sehr gewöhnt haben:

„Wir können niemals messen, wie lang und entfernt oder wie kurz und dringlich zwölf (heute 24) Stunden sind, gleichzeitig nennen wir es ‚zwölf Stunden‘.“


Denn in der Tat sagen die Angabe der Zeitdauer von Stunden und Tagen unseres Lebens wenig darüber aus, was wir in bestimmten Augenblicken existentiell oder spirituell erleben. Wir reden zwar von 24 Stunden des Tages, aber genau genommen ist es unmöglich, die Länge oder Kürze einer solchen Zeitstrecke existenziell zu bestimmen. Auch die Dringlichkeit und der Zeitdruck lassen sich logisch nicht exakt bestimmen, aber trotzdem haben wir uns daran gewöhnt – nicht zuletzt aus Bequemlichkeit –, von den 24 Stunden des Tages als einer Zeitstrecke zu sprechen. Eigentlich ist das nur eine Übereinkunft, die keine präzise psychologische Grundlage besitzt.


Nishijima Roshi bemerkt dazu: „Die Bedeutung von ‚Sein-Zeit‘ beinhaltet, dass Zeit genau dasselbe ist wie das Sein. Und das Sein ist in jedem Fall genau dasselbe wie die Zeit. Der goldene Leib von Gautama Buddha, dessen (Standbild) 16 Fuß hoch ist, ist genau der gegenwärtige Augenblick. Weil er der gegenwärtige Augenblick ist, hat er das großartige Leuchten wie die Zeit. Wir sollten studieren, dass die Zeit genau als Zeit verstanden werden sollte, und dies ist dasselbe wie (die Augenblicke der) 24 Stunden des Tages.“


Eine lineare Zeitstrecke ist nicht die Realität des wesentlichen Seins.
Dōgen fährt mit seinem Kommentar fort:


„Das Verlassen und Kommen der Richtungen und Spuren (der Zeit) sind (nur scheinbar) klar und daher bezweifeln es die Menschen nicht. Sie bezweifeln es nicht, aber dies bedeutet nicht, dass sie (die Zeit wirklich) kennen.“


Wir betrachten die Zeit als Selbstverständlichkeit und die Frage, was denn die Zeit nun wirklich ist, halten die meisten für theoretische Philosophie, die im Alltag keine Bedeutung hat – oder sogar für Haarspalterei. Das ist aber nicht richtig und geht am echten Leben vorbei: auf die wesentlichen Augenblicke kommt es an.


Das war wohl schon in früheren Jahrhunderten so, als die Menschen noch viel „mehr Zeit hatten“ und weder über mechanische noch quarzgesteuerte Uhren verfügten, aber umso mehr gilt es in der heutigen Zeit. Unser Alltag ist im beruflichen und privaten Bereich wesentlich festgelegt durch Termine, also Zeitpunkte und Zeitstrecken, vor allem aber durch „Zeitdruck“ und „Zeitmangel“. In diese unwesentliche Zeit sind wir wie eingezwängt: Weg mit diesem Käfig und zur Gegenwart des Tun und Schauen!


Für Dōgen ist die Frage nach der Wirklichkeit der Sein-Zeit von ganz zentraler Bedeutung, seine Aussagen ist genau auf den Punkt.

Montag, 17. Oktober 2011

Spirituelle Zeit

Nur in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt kann der Mensch nach Dōgen ein erfülltes, freudiges und ausgeglichenes Leben führen. Das bedeutet aber nicht, dass es verboten ist, zu denken und zu überlegen. Es bedeutet schon gar nicht, vernünftige Planungen für die Zukunft zu machen und lebendige klare Erfahrungen einzubeziehen. Ganz im Gegenteil! Ohne Vernunft geht es nicht, aber sie ist kein auf Vorteil bedachtes Kalkulieren.

Wir müssen uns im Klaren darüber sein, wann wir uns Vorstellungen und schönen oder erbaulichen Illusionen hingeben, und wann wir in dieser echten Wirklichkeit leben. Und es geht um die spirituelle Wirklichkeit und nicht um Zahlen, Bankonten und Vorteilslogik. Es geht auch nicht um die eigene „Erfolgs-Ethik“, die ja gerade kein Ethos ist.

Allzu häufig lassen wir nämlich nur unser eigenes „Heimkino“ im Gehirn ablaufen, das wir jedoch nicht mit der Wirklichkeit verwechseln dürfen. Sie besteht zum Beispiel aus den 24 Stunden des Tages, dem goldenen Körper Buddhas und ist die Zeit als die wahre Sein-Zeit selbst. Das ist die wahre spirituelle Existenz, nach der sich heute so viele Menschen sehnen, weil sie sich nicht mehr gängeln und bedrohen lassen.
Dōgen erläutert das Gedicht (vgl. früherer Block) folgendermaßen:

„In diesen Worten ‚manchmal, zur Sein-Zeit‘ ist Zeit schon genau Existenz und jede Existenz ist Zeit. Der 16 Fuß goldene Leib ist selbst Zeit. Weil er Zeit ist, ist er der strahlende Glanz der Zeit. Wir sollten sie als die 24 (wörtlich: zwölf) Stunden des Tages erlernen.“

Ein Hinweis vorab: In China wurde der Tag in zwölf Stunden eingeteilt und so erscheint es wörtlich im obigen Zitat. Gemeint sind damit aber nach unserer heutigen Zeiteinteilung die 24 Stunden des ganzen Tages.
Die Bedeutung der Sein-Zeit als wahre Existenz beinhaltet, dass Zeit und Existenz immer und in jedem Falle eine Einheit bilden. Es gibt also keine wirkliche Existenz außerhalb der Zeit! Wichtig: Hier ist nicht die gedachte, vorgestellte oder berechnete Zeit – also die sogenannte lineare Zeit – gemeint. Es geht um das existenzielle Jetzt der Gegenwart, das mit der Wirklichkeit zusammenfällt.

Dōgen betont, dass wir nicht an die lineare Zeitstrecke von 24 Stunden denken sollten, sondern an die jeweiligen Augenblicke der gegenwärtigen Zeit, die als Zeitpunkt im Jetzt des Augenblicks erfahren wird. Verkürzt heißt das, dass wir den ganzen Tag und die ganze Nacht mit der Sein-Zeit identisch sind. Das ist unser wahres, offenes und lebendiges Selbst. Dōgen beschreibt diese Zeit als strahlend und leuchtend – sie ist also nicht durch Angstdruck, Pessimismus und Grübeleien oder durch illusionäre Euphorie gekennzeichnet. Dies ist der Gleichgewichtszustand in der Gegenwart! Dōgen stellt eine intuitive Verbindung mit den goldenen Buddha-Statuen her, aber er mahnt uns auch, die Statuen und Bilder nicht oberflächlich mit der Wirklichkeit zu verwechseln, denn nur sie ist die Existenz-Zeit. Er erläutet weiter:

„Die drei Köpfe und acht Arme sind selbst Zeit. Weil sie Zeit sind, sind sie vollständig dasselbe wie die 24 Stunden des Heute.“

Warum? Die Statue des Tempelwächters mit drei Köpfen und acht Armen stand häufig in den buddhistischen Tempeln und war einerseits ein konkreter Gegenstand mit spiritueller Kraft und andererseits durch sein zorniges Aussehen ein Symbol für Ärger, Abwehr oder sogar Aggressivität. Er sollte einerseits das Böse vom Tempel fernhalten und andererseits als menschlicher Zorn interpretiert werden, der berechtigt oder unberechtigt sein mag. Damit stellt Dōgen klar, dass auch unangenehme emotionale Zustände Teil der Sein-Zeit und der Existenz sind. Aber es gibt das begründetes große Vertrauen, dass wir durch den Buddha-Weg zu Frieden, Verantwortung und echter Menschlichkeit kommen.

Sonntag, 9. Oktober 2011

Die wesentlichen Augenblicke unseres Leben

Die Gesamtheit der Welt wird durch den höchsten Berg, den tiefsten Ozean, durch den Tempelwächter und die Buddha-Statuen exemplarische beschrieben. Sie alle haben sowohl eine räumliche, konkrete Dimension als auch eine tiefe spirituelle Bedeutung im Buddhismus. Die Gegenstände der buddhistischen Zeremonien, wie Stab und Fliegenwedel, werden ebenso genannt wie die Stützpfeiler des Tempels, die meist außerhalb der Räume des Klosters stehen, und die Steinlaternen, die im Allgemeinen im Klostergarten aufgestellt sind.

Mit den weit verbreiteten chinesischen Familiennamen Chang und Li – vergleichbar mit den Namen Schmidt, Müller oder Schulze bei uns (bitte entschuldigen Sie, wenn Sie so heißen) – bezieht das Gedicht auch das Alltagsleben der normalen Familien ein. Am Schluss werden die Erde und der Raum genannt, wodurch die Aussage der ersten Zeile des Gedichts verallgemeinert wird; der Kreis schließt sich.

Gemeint ist die ganze Welt, die Erde, das Leben und überhaupt alles im Universum. Das heißt, dass die Sein-Zeit im Sinne des Buddhismus unauflösbar mit all diesem verbunden ist und dass das Sein ohne die Zeit überhaupt nicht sein und existieren kann. Auch wir können ohne die Zeit überhaupt nicht leben; es ist wichtig, dass wir uns das wieder klar machen.

Nishijima Roshi sagt dazu: „Nach der buddhistischen Lehre existiert alles wirklich genau im gegenwärtigen Augenblick, daher beschreibt das buddhistische Gedicht (des alten Meisters) genau die wirklichen Situationen unseres menschlichen Lebens.“

Es geht um die wirkliche Existenz-Zeit und die Vielfalt des Lebens. Der Tempelwächter wird meistens mit einem zornigen Gesicht dargestellt, was darauf hinweist, dass sich die Sein-Zeit nicht nur auf heilige und verklärte emotionale Zustände bezieht, sondern genauso auf das wirkliche Leben, in dem es eben auch Zorn und Ärger gibt. Sein und Zeit bilden eine großartige Einheit, die in der erfahrenen und erlebten Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden sind.

Eine Trennung in Zeit und eine sachliche oder spirituelle Welt wird nur in unserem Verstand durch Überlegungen und unterscheidendes, dualistisches Denken konstruiert. Mit solchen Gedankenkonstrukten haben wir dann allerdings die Wirklichkeit und Wahrheit des Buddha-Dharma bereits verlassen. Wir „leben“ nur noch im Bereich des Denkens und der Vorstellungen, die oft psychodynamisch durch unbewusste starke Emotionen oder sogar Gier und Hass gesteuert werden.

Doch es gibt einen Weg zurück zur Wirklichkeit des Hier und Jetzt: Das ist der Buddha-Weg. Die Zazen-Praxis hilft dabei ganz wesentlich, dass wir uns aus den meist unbewussten, spekulativen und abstrakten „Denknestern“, Täuschungen und Fantasiegebilden sowie den damit verbundenen Emotionen befreien und die Flucht aus der Realität des Lebens radikal beenden. Denn diese Flucht ist nach buddhistischer Lehre eine wesentliche Ursache unseres Leidens, das wir doch gerade überwinden wollen und auch können.

Montag, 3. Oktober 2011

Die Einheit der Sein-Zeit mit dem Leben und der Welt

Der zentralen Frage nach der Zeit wollen wir jetzt nachgehen, indem wir uns dem Kapitel des Shōbōgenzō über die Sein-Zeit widmen.

Meines Wissens hat Philip Kapleau mit Unterstützung von Harada Roshi zum ersten Mal einen Teil dieses Kapitels in eine westliche Sprache übertragen. Nach seiner Überzeugung war Dōgen „wahrscheinlich der glänzendste Geist, den der japanische Buddhimus hervorgebracht hat“.
Und weiter:
„In unterrichteten Zen-Kreisen sagt man, dass die tiefsinnigen Kapitel des Shōbōgenzō der Mount Everest des japanischen Buddhismus seien.“ Dabei sei das Kapitel 11 über die Sein-Zeit „vermutlich das tiefsinnigste dieses Buches (Shōbōgenzō)“.

Dōgen gelangt zu der radikalen Schlussfolgerung, dass die Wirklichkeit, die Zeit als Gegenwart und das Handeln unauflösbar miteinander verbunden sind! Nur wenn wir dies in unserem Leben praktisch realisieren, sind wir in der Wirklichkeit und Wahrheit, und das ist der Buddha-Dharma oder das Erwachen.
Eine solche Erfahrung kann man besonders klar bei der Zazen-Praxis machen; ich bezeichne sie mit Nishijima Roshi als die erste Erleuchtung.

Der Zen-Buddhismus legt großen Wert auf das tägliche Leben, in dem sich die Sein-Zeit sowohl in der Zazen-Praxis als auch im Alltagshandeln als erste Erleuchtung ereignen kann. Erleuchtung ist nämlich kein erträumter Idealzustand des Geistes, der unabhängig vom Körper und der Zeit existiert, sondern praktisches Leben im Hier und Jetzt.
Gehen wir nun aber ins Detail und klären die einzelnen Aussagen Dōgens Schritt für Schritt.
Am Anfang des Kapitels zitiert Dōgen ein Gedicht des alten Meisters Yakusan Igen:

„Ein ewiger Buddha sagt:
‚Manchmal, zur Sein-Zeit, auf dem höchsten Berggipfel stehend.
Manchmal, zur Sein-Zeit, auf dem Grund des tiefsten Ozeans bewegend.
Manchmal, zur Sein-Zeit, drei Köpfe und acht Arme (des zornigen Tempelwächters).
Manchmal, zur Sein-Zeit, der 16 Fuß (stehende), oder der acht Fuß (sitzende goldene Leib des Buddhas).
Manchmal, zur Sein-Zeit, ein Stab oder ein Fliegenwedel (für die Zeremonien).
Manchmal, zur Sein-Zeit, ein Außenpfeiler (des Tempels) oder eine Steinlaterne.
Manchmal, zur Sein-Zeit, der (ganz normale) dritte Sohn des Chang oder der vierte Sohn des Li.
Manchmal, zur Sein-Zeit, die Erde und der Raum.‘“

Dieses Gedicht drückt die Einheit der Sein-Zeit mit allen Bereichen und Dingen des Lebens und der Welt aus.