Samstag, 31. Dezember 2011

Fortführung des Blogs von Nishijima Roshi in Deutsch

Als Übersetzer dieses Blogs möchte ich darauf aufmerksam machen, dass jetzt der Text des berühmten Werkes von Meister Nargarjuna in Deutsch veröffentlicht wird (abgekürzt aus dem Sanskrit, MMK):

Verse des tiefgründigen Mittleren Weges

Nachdem das englische Buch zum MMK von Nishijima Roshi und Brad Warner veröffentlicht wurde, sind einige meiner eigenen früheren Verständnisprobleme lösbar geworden, sodass ich mich daran wage, die Übersetzung ins Deutsche anzugehen. Es ist in der Tat kein einfacher Text, aber Nishijima schätzt ihn außerordentlich: er sei auf dem selben ganz hohen buddhistischen Level wie das Shobogenzo von Meister Dogen. Dies sei der wahre und nicht verflachte oder dogmatisierte Buddhismus.

Es handelt sich nicht um eine ganz wörtliche Fassung, die noch schwerer zu verstehen wäre, sondern um die sinngemäße und interpretierte Fassung.

Zum Teil habe ich bei der Edition die Kommentare des neu erschienenen englischen Buches des MMK zu Hilfe genommen und verkürzt zugesetzt. Dadurch konnte das Verständnis im Sinne von Nishijima Roshi m. E. wesentlich verbessert werden; er hat mich dazu ausdrücklich ermutigt.
Bitte hier klicken:

Dogen-Sangha Blog, deutsch


Mit herzlichen Grüßen

Yudo J. Seggelke

Montag, 26. Dezember 2011

Buddha und Weihnachten

Liebe Freundinnen und Freunde des Buddhismus,

hoffentlich hatten Sie ein schönes und erfülltes Weihnachtsfest.

Für mich als Buddhist gibt es zwei Bereiche des Christentums und unserer westlichen kulturellen Welt, die mich sehr berühren und mir mit Buddhas Lehre und Praxis ganz eng verwandt erscheinen: Die Weihnachtsgeschichte des Neuen Testaments und der große Mensch Franz von Assisi.

Die Weihnachtsgeschichte ist voller Freude und Ermutigung, wesentliche Grundlage des Gleichgewichts und Kräftigung durch Lebensfreude und Licht. Wie die Himmlischen Verweilungen des frühen Buddhismus:
Liebevolle Zuwendung, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut.

Und Weihnachten ist ähnlich wie die Einheit der Vier Lebensbereiche nach Dōgen und Nishijima Roshi:
Ideelles/Spirituelles,
Dinge (Geschenke!),
Handeln (Vorbereitung, Schenken) und
Gleichgewicht/Erleuchtung/Höchster Lebenszustand.

Wenn das Materielle ein zu großes Übergewicht hat, kann der Höchste Lebenszustand nicht mehr verwirklicht werden, so einfach ist das. Kinder haben meist noch nicht die Trennung dieser Lebensbereiche und erfahren deswegen eine so tiefe natürliche Freude an Weihnachten, sie leben noch in der Einheit. Davon können wir wirklich viel lernen.

Franz von Assisi und seine ganze Umgebung in Umbrien haben m. E. die Enge einer einseitigen Religion hinter sich gelassen. In seiner Kirche in Assisi ergreift mich immer eine unerklärlich Schwingung und Energie, die Unendlichkeit des Augenblicks und des Universums und die Aufhebung der Trennung zwischen den Menschen. Meine Frau betet dort während ich im Zazen meditiere.

Mit den besten Wünschen zum neuen Jahr
Yudo. J. Seggelke

Montag, 19. Dezember 2011

Meine Sein-Zeit ist wahres Leben

Dōgen fährt fort:


„Um den wesentlichen Kern (der Zeit) zu erfassen und ihn zu formulieren: Alles was im ganzen Universum existiert, ist in einer Serie aneinandergereiht und zugleich sind es (jeweils) einzelne Augenblicke der Zeit. Weil (dies) Sein-Zeit ist, ist es meine Sein-Zeit (in der ich wirklich existiere).“


Hier verdeutlicht er, dass alles im Universum aus diesen jeweiligen Augenblicken der Sein-Zeit besteht, die nacheinander da sind, also als Serie unabhängiger Augenblicke verstanden werden können. Sie sind jeweils für sich die Wirklichkeit und Existenz, also das Sein. Nishijima Roshi erläutert dazu:

„Kurz gesagt, die ganze Existenz im ganzen Universum ist in einzelne Augenblicke unterteilt, auch wenn es so erscheint, als ob sie zu einer linearen Einheit verbunden sind. Und weil es Sein-Zeit ist, kann (und muss) ich es meine Sein-Zeit nennen.“


Da das Universum real nicht von mir getrennt ist, bildet es eine Wirklichkeit mit mir, also ist es meine eigene Sein-Zeit. Damit ist eine dualistische Sicht, die nicht wirklich ist und so viel Leiden und Unsicherheit für die Menschen erzeugt, überwunden. In jeder gegenwärtigen Zeit des wahren Seins gibt es diese großartige Wirklichkeit, die nicht von mir getrennt ist.


Die Jetzt-Zeiten des Seins werden hier von Dōgen als eine Folge oder Serie gekennzeichnet, die jeweils in der Wirklichkeit mit mir identisch sind. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass es sich dabei keineswegs um ein gedachtes theoretisches Modell der Zeit handelt, sondern um die wirkliche Erfahrung, die sich beim Handeln, vor Allem beim Zazen, jeweils in der Gegenwart offenbart.


Eine Theorie – und sei sie noch so anschaulich – ist das eine und die Wirklichkeit ist das andere. Und schlechte Theorien bergen große Gefahren für uns.
Ein Beispiel: Obgleich ich jetzt nur noch die Erinnerung an mein früheres Tun beim Bergsteigen oder Durchqueren des Flusses habe, ist es damals die ganze umfassende Wirklichkeit der Sein-Zeit gewesen. Das dürfen wir nicht außer Acht lassen. Ein solcher Ansatz kann verhindern, dass man aufgrund der jetzigen Stimmungslage vergangenes Handeln umdefiniert, beispielsweise positiv oder negativ bewertet, also Veränderungen, um nicht zu sagen Verzerrungen, in das frühere Geschehen hineindeutet.


Damit würde man nämlich der damaligen Sein-Zeit in der damaligen Wirklichkeit nicht gerecht werden. Ähnlich ist das psychisch bedingte Vergessen zu verstehen, das Freud als Verdrängung bezeichnet und als Erster gründlich untersucht hat.

Mittwoch, 14. Dezember 2011

Die Flucht aus der Zeit ist unmöglich




Das wesentliche Sein in unserem Leben besteht erfahrungsgemäß aus den zentralen Augenblicken und nicht aus Zeitstrecken, welche die Grundlage der üblichen linearen Zeitvorstellung bilden. Zeitstrecken und Termine sind organisatorische Randbedingungen unseres Lebens, nichts mehr und nichts weniger! Das Wesentliche findet innerhalb der Zeitstrecke statt.


Wir neigen dazu, vergangene Erfahrungen aus der zeitlichen Distanz her verkürzt zu erinnern und zu kommunizieren, gewissermaßen abgetrennt und wie ein fernes Objekt. Das ist jedoch ungenau und entspricht nicht der Wirklichkeit, die in den damaligen Augenblicken tatsächlich existierte. Das sollten wir nicht vergessen, sonst geht uns viel von dem damaligen wahren Sein verloren.


Als Nächstes spricht Dōgen das Fortschreiten der Zeit an:
„(Da die Zeit) so ist, sind Pinien die Zeit und Bambusse sind die Zeit. Wir sollten dies nicht nur so verstehen, dass die Zeit enteilt. Wir sollten nicht lernen, dass ‚enteilen‘ die einzige Eigenschaft und Fähigkeit der Zeit ist.“

In unserer gewöhnlichen Vorstellung haben wir den Eindruck, als ob die Zeit enteilt und flieht, und oft beunruhigt uns

das. Gute Momente wollen wir gern festhalten und wir haben manchmal Angst vor Veränderungen, die uns vielleicht in Gefahr bringen könnten.

Viele Menschen leben dauernd in Hast und unter Zeitdruck. Sie empfinden dies als Stress, dem sie eigentlich entkommen möchten. Sie träumen vielleicht davon, dass die Zeit gerade nicht unerbittlich voranschreitet und sie atemlos hinterherhetzen müssen. Sie wollen sogar der Zeit entfliehen. Aber das geht nicht und wäre auch fatal. In der Wirklichkeit haben die Augenblicke der Zeit ihre Ruhe und ihr Gleichgewicht, denn die Hetze – insbesondere der heutigen Industrie- und Konsumgesellschaft – ist meist unnötig und verhindert gerade das wirkliche Erleben. Zeithetze ist ist der Feind der Spiritualität.

Besonders Shunryu Suzuki rät uns, der Zeit in stabiler Gelassenheit zu begegnen und unsere Zentrierung nicht zu verlieren: Das ist der Mittlere Weg, bei dem jeder Augenblick aus der Leerheit neu und frisch entsteht, ja neu geboren wird. Das gibt Lebensfreude und Lebenskraft. Dann drehen wir nach Dōgen selbst die Blume des Dharma und werden nicht von der Umgebung und der Welt gedreht.


„Wenn wir genau die Zeit verlassen, um zu entfliehen, müssten (in der Zeit) einige Lücken erscheinen.“
Mit diesem kurzen Satz argumentiert Dōgen auf der logischen Ebene der Vernunft, indem er uns vor Augen führt, was passieren würde, wenn wir der Zeit wirklich entfliehen könnten. Wenn dies gelänge, wären wir tatsächlich von der Zeit getrennt, weil wir ihr ja gerade „erfolgreich“ entkommen wären.


Damit würden ein Abstand und eine Lücke zwischen den Zeitabschnitten und zwischen uns und der Zeit entstehen, wir würden gewissermaßen ohne Zeit existieren. Dann würden wir aber in den Lücken überhaupt nicht existieren. Da dies aber unmöglich ist, ist auch eine solche Flucht aus der Zeit schon logisch unmöglich. Die Flucht aus der Zeit ist eine Illusion. Aber warum überhaupt die Hetzte und Flucht? Ist das nicht ganz überflüssig? Ich glaube ja, und das Leben wird dann viel einfacher und effizienter. Die Zazen-Praxis ist dafür eine einzigartige Methode.

Montag, 5. Dezember 2011

Die Augenblicke kommen und gehen

Dōgen erklärt, wie die Wirklichkeit der vergangenen Augenblicke in die jetzige Gegenwart hineinreicht:

„Wie könnte jene Zeit des Ersteigens des Berges und Überqueren des Flusses etwas anderes sein, als genau die Sein-Zeit zu verschlucken und (wieder) auszuspeien, (jetzt da wir) im Juwelen-Palast mit schönen purpurnen Türmen (sind)?“

Das klingt in unseren Ohren recht fremdartig. Was ist damit gemeint? Aus meiner Sicht geht es hier um die Sein-Zeit der jeweiligen Augenblicke, in welcher von uns der Berg erstiegen und der Fluss überquert wurde. Auch damals war es die Sein-Zeit, die identisch mit der Wirklichkeit war. Das heißt, die beiden Handlungen – Ersteigen und Überqueren – vollzogen sich im Gleichgewicht des Augenblicks und damit in der Wirklichkeit.

Die einzelnen Augenblicke werden in der Sprache Dōgens „verschluckt“ und sofort wieder „ausgespien“ – eine sehr drastische Ausdrucksweise. Damit ist die Abfolge der einzelnen Augenblicke gemeint, die kommen und gehen. Der Juwelen-Palast mit purpurnen Türmen ist Symbol für einen sehr schönen und angenehmen Aufenthaltsort, der einen Gegensatz zur damaligen Mühsal der Überquerung von Bergen und Flüssen bildet. Diese Mühsal können wir auch als Übungspraxis deuten, aber auch die Praxis findet in der Sein-Zeit statt, ganz in der Gegenwart. Die Augenblicke der Praxis haben eigene große Bedeutung.

Der früher erwähnte goldener Buddha steht symbolisch für die Wirklichkeit des umfassenden Buddha-Dharma, die ebenfalls im Jetzt der Gegenwart wirklich und daher strahlend und golden ist.

„Genauso bezieht sich das buddhistische Grundprinzip von gestern und heute genau auf Augenblicke, in denen wir direkt in die Berge gehen und über Tausende oder Zehntausende Gipfel hinwegschauen. Es bezieht sich nicht darauf, was (in unserem Denken scheinbar) vergangen ist.“

Indem Dōgen die vielen Berggipfel erwähnt, stellt er einen sehr konkreten Bezug zum Beobachten und Erfahren im Gebirge her. Dafür müssen wir aufmachen, die Berge im Augenblick in uns hineinehmen. Eine solche Augenblicklichkeit der Wirklichkeit umfasst das Heute genauso wie das Gestern.

Wir sollten uns daher immer bewusst sein, dass eine nur abstrakte Erinnerung an vergangene Gegenstände oder Vorgänge ungenau ist. Wir sollten alles so erfahren, wie es sich zu dem damaligen Zeitpunkt als Sein-Zeit wirklich ereignete. Das Gleiche gilt für die früher erwähnte Statue des Tempelwächters mit drei Köpfen und acht Armen, die augenblicklich als meine Sein-Zeit erfahren wird, also von dieser jetzigen Sein-Zeit nicht getrennt werden kann. Der Tempelwächter ist dann und nur dann Wirklichkeit und nicht nur äußere rituelle Form.