Montag, 12. November 2012

Leben im Gleichgewicht



Im folgenden Zitat schildert Dōgen die Lebensweise und die Praxis derjenigen Menschen, die sich durch Handeln verwirklichen und im Gleichgewicht befinden:

„Wenn die große Wahrheit (klar und) offen erreicht ist, das Leben zu verstehen und den Tod zu meistern, gibt es dafür eine alte Formulierung: ‚Die großen Heiligen überlassen Leben-und-Tod ganz dem Geist, ganz dem Körper, und ganz der Wahrheit. Sie überlassen Leben-und-Tod dem Leben-und-Tod (selbst).‘“

Wenn man im Gleichgewicht lebt, kann man die Sorgen des täglichen Lebens und das Leiden hinter sich lassen und die Ängste und Beklemmungen im Hinblick auf Alter, Krankheit und Tod auflösen. Solche emotionalen Verdüsterungen verlieren also im Augenblick des wahren Handelns ihre psychische Energie und können uns nicht mehr schaden und blockieren.

„Das wahre, reine Handeln der Buddhas wird augenblicklich praktiziert und ist umfassend und ganzheitlich. Es überschreitet Zeitvorstellungen der Vergangenheit und Gegenwart. Die Wahrheit bildet einen Kreis und (der Zustand des handelnden Buddhas kann) intuitiv die große Bedeutung von Leben-und-Tod und Körper-und-Geist erfassen und annehmen.“

Der Kreis steht hier als Symbol für die Ganzheit und Einheit von Selbst und Universum, also für Wahrheit und Wirklichkeit.
Dann unterstreicht Dōgen noch einmal, dass gewaltsames, willentliches oder ideologisches Handeln nicht mit dem umfassenden Praktizieren und der vollen Klärung, die identisch mit der Zazen-Praxis sind, gleichgesetzt werden kann. Diese Praxis charakterisiert Dōgen wie im Fukan zazengi, indem er sagt, dass wir dabei das Licht nach innen wenden, wo es sich widerspiegelt und uns leuchten lässt. Die wahren Handlungen haben zwar manchmal eine gewisse Ähnlichkeit mit einem in Täuschung befindlichen Gehirn, das aber gerade dadurch die Schatten der Wahrheit und Wirklichkeit erkennt. Damit stellt Dōgen einen direkten Bezug zum Zustand von Körper-und-Geist im wahren Handeln der Zazen-Praxis her und bezeichnet gleichzeitig das Denken des Gehirns als Möglichkeit, durch Handeln zumindest die Schatten der Wirklichkeit zu erkennen. Die Wirklichkeit selbst ist jedoch nur durch das reine, wahre Handeln zu erlangen, wenn die Unklarheiten der Täuschungen verschwunden sind.

Interessante Parallelen ergeben sich hierzu durch den Vergleich mit dem berühmten Höhlengleichnis von Platon, das besagt, dass gewöhnliche Menschen die Wirklichkeit nur wie eine Schattendarstellung an der Wand der Höhle wahrnehmen. Die Wirklichkeit selbst sei ihnen aber überhaupt nicht zugänglich. Erst wenn man die Höhle verlässt, habe man die Möglichkeit, in der Wirklichkeit der Welt zu erkennen. Allerdings glaubt Platon daran, dass dies durch den Geist und durch Denken möglich sei und dass die Philosophie das entscheidende Werkzeug dafür ist.

Diese Ansicht steht im klaren Gegensatz zu Dōgens Lehre, die eindeutig aussagt, dass selbst mit scharfsinnigem Denken allein die Wirklichkeit nicht erreichbar ist und dass man aus dem Schattendasein des Lebens durch Denken nicht herauskommen kann. Es besteht laut Dōgen sogar im Gegenteil die Gefahr, dass das unterscheidende Denken uns immer tiefer in die „schwarzen Höhlen“ der Verwirrung führt.
Dōgen beschreibt das wahre Handeln auch als „ein Leuchten jenseits des (üblichen) Leuchtens.