Samstag, 28. Januar 2012

Der Augenblick der Sein-Zeit ist wahres Leben




Mit dem folgenden Zitat wird die Identität von Sein und Existenz, also unseres wahren Lebens, einerseits und Zeit in dem beschriebenen Sinne andererseits zusammenfassend ausgedrückt:
„Wir sollten (die Sein-Zeit) nicht stören (durch die Interpretation) ‚ohne etwas seiend‘ und wir sollten sie nicht absichtsvoll ‚Existenz‘ nennen.“

Die Begriffe „Nicht-Existenz“ und „ohne etwas seiend“ oder das scheinbare Gegenteil – der Begriff „Existenz“ – werden oft leichtfertig in buddhistischen Gruppen als „Dharma-speech“ benutzt und bleiben auf der verbalen Ebene hängen. Sie dringen nicht zur Wirklichkeit vor. Wahres Leben ist Handeln im jetzigen Augenblick!

Das bekannte japanische Wort Mu wird in diesem Sinne meist vordergründig als „Nichts“ interpretiert. Dōgen hat dieses Problem sehr gründlich im Zusammenhang mit der Wirklichkeit der Buddha-Natur untersucht. Er warnt uns davor, bedeutsame Begriffe nachlässig zu verwenden, wenn es um die Wirklichkeit selbst geht.

Vor allem darf die Realität nicht mit diesen Begriffen verwechselt werden, sonst entsteht ein Durcheinander von verschiedenen Lebensphilosophien. Denn Begriffe wie „Existenz“ oder „Nicht-Existenz“ bleiben allzu leicht auf der gedanklichen Ebene hängen und können dadurch sogar verhindern, dass wir das Jetzt der Wirklichkeit erlangen.

In Bezug auf die Zeit bemühen wir uns vor allem, nur zu erfahren, wie unbeirrt sie vorbeigeht. Wir verstehen nicht intellektuell, als was sie schon kommt.“

Im Alltag empfinden viele von uns gerade in der modernen westlichen Gesellschaft einen immensen Zeitdruck, der uns oft sehr belastet. Wir haben das Gefühl, dass die Zeit schonungslos vorübergeht und meinen, uns diesem Druck nicht entziehen zu können. In dieser Situation erfahren wir die von Dōgen beschriebene Sein-Zeit nicht. Der Zeitdruck muss meist gar nicht sein.
Gleiches gilt für ein nur verstandesmäßiges, intellektuelles Begreifen der Zeit, die in unserer Vorstellung auf uns zukommt. Wir vergessen dabei, dass der kommende Augenblick von uns kreativ gestaltet werden kann und neue, vielleicht wunderbare Chancen bietet.


„Durch nur intellektuelles Verstehen der Zeit werden die wirklichen Umstände (des Lebens und der Welt) niemals beeinflusst.“

Hier verdeutlicht Dōgen noch einmal, dass intellektuelles Verstehen, das nicht in Handeln umgesetzt und mit Handeln verbunden wird, keinen Einfluss auf unsere wirklichen Lebensumstände hat. Wer im Denken verbleibt, kann nicht zur Wirklichkeit vordringen und muss daher leiden.

Montag, 23. Januar 2012

Die "halbe Sein-Zeit " ist die spirituelle Kraft der Freiheit

Dōgen gibt sich mit den bisherigen Überlegungen des Zeit-Kapitels nicht zufrieden und untersucht ganz konkret die Realität unseres Lebens, die selten oder nie einem erträumten Ideal entspricht und vielleicht auch gar nicht entsprechen sollte. Denn Ideale schießen meist über die Wirklichkeit hinaus, als Anfangsimpuls sind sie allerdings äußerst wichtig. Daher sollten wir den Kern der Sein-Zeit verwirklichen und keinen unnützen Verzierungen nachjagen. Wir sagen dazu bekanntlich „Weniger ist mehr“:


Weil etwas Zusätzliches genau etwas Zusätzliches ist, ist sogar ein Augenblick der halb vollkommenen verwirklichten Sein-Zeit die vollkommene Verwirklichung der halben Sein-Zeit.“


Das klingt zunächst verwirrend. Was bedeutet der Begriff „halbe Sein-Zeit“? Eine Hilfe für die Erklärung gibt Kapitel 73 des Shôbôgenzô über die 37 Elemente des Erwachens. Dort geht es um die Frage, was aus buddhistischer Sicht getan werden muss, damit das moralisch schlechte Handeln von früher in seinen Wirkungen ausgehebelt wird, und sich eine neue Freiheit für uns eröffnet. Damit entfällt der Zwang einer karmischen Fixierung.



Dōgen stellt das richtige Handeln in der Gegenwart in den Mittelpunkt und sagt, es komme darauf an, wie wir jetzt, genau in diesem Augenblick tatsächlich handeln, denn dadurch haben wir die Freiheit, das Schlechte zu beseitigen:


„Das ganze Geschehen bedeutet das halbe Geschehen. Halbes Geschehen bedeutet, was hier und jetzt geschieht. Was hier und jetzt geschieht, ist nur durch das Geschehen selbst fokussiert.“


Der Ausdruck „halbes Geschehen“ bedeutet im Verständnis Dōgens, dass es sich um das wirkliche Geschehen selbst handelt, das keine Zusätze zum Beispiel durch Täuschungen, Fantasien, Einbildungen oder Vorstellungen umfasst. Diese Deutung kann man auch auf die „halbe Sein-Zeit“ anwenden, das heißt dann, dass damit das wirklich Reale der Zeit gemeint ist. Durch diese halbe Sein-Zeit werden wir frei, die alten Fehler sind ohnehin nur "Wetterleuchten im Gehirn", der Augenblick schluckt sie ersatzlos.

Mit dieser Aussage, die Dōgen am Ende des Kapitels zur Sein-Zeit in Gedichtform aufgreift, warnt er uns auch vor Idealisierungen der Sein-Zeit: Sie soll nicht nur als buddhistisches Ideal oder als Vorstellung verstanden werden, denn dann wäre sie mit dem wirklichen Leben nicht identisch. Nishijima Roshi erläutert hierzu:


„Die wirkliche Sein-Zeit besteht immer aus Tatsachen im gegenwärtigen Augenblick und daher ist auch eine halb-realisierte Sein-Zeit genau die Sein-Zeit. Auch die wirklichen Situationen, die aus Fehlern zu bestehen scheinen, sind die wirkliche Sein-Zeit dieser Fehler. Alle kraftvollen wirklichen Aktivitäten, die im Universum existieren, sind genau die wirklichen Sein-Zeiten.“

Montag, 16. Januar 2012

Gewöhnliches Verständnis der Zeit



Was haben die Schilderungen Dōgens der Sein-Zeit mit der Sichtweise und dem Verständnis der „normalen“ Menschen zu tun? Auch darüber hat er sich Gedanken gemacht:


„Die Sicht der heutigen gewöhnlichen Menschen und die Ursachen und Bedingungen für (diese) Sicht sind das, was der gewöhnliche Mensch erfährt, aber (dies ist) nicht die (wahre) Wirklichkeit des gewöhnlichen Menschen. Es ist für die Gegenwart genau so, dass die Wirklichkeit einen gewöhnlichen Menschen (gerade) zu seinen Ursachen und Bedingungen gemacht hat. Weil er es so versteht, (dass) diese Zeit und diese Existenz etwas anderes als die Wirklichkeit selbst sind, meint er, dass auch ‚der 16 Fuß goldene Leib‘ (des Buddhas) jenseits von mir ist.“

Damit bringt Dōgen zum Ausdruck, dass die Erfahrung des gewöhnlichen Menschen oftmals gerade nicht die eigentliche Wirklichkeit ist. Dessen Erfahrungen seien durch seine eigene subjektive Sichtweise und deren Ursachen und Umstände bestimmt. Die Ursachen und Umstände täuschen dem gewöhnlichen Menschen für eine Weile eine Wirklichkeit vor, die aber nicht real ist!


Sein Verständnis sagt ihm fälschlicherweise, dass die Zeit und Existenz von der Wirklichkeit verschieden seien. Er ist daher der Meinung, dass der „16 Fuß goldene Leib (des Buddhas) jenseits von ihm ist“. Aber die Wirklichkeit ist nicht teilbar in eine Buddha-Statue und uns selbst. Darüber hinaus ist das durch Buddha symbolisierte Erwachen die wahre Natur jedes Menschen und für jeden zu erlangen, wenn er sich auf den Buddha-Weg begibt.


Nishijima Roshi sagt zu diesem Problem:
„Obgleich das Universum jeden Menschen genau so wie Gautama Buddha geschaffen hat, lehnt der gewöhnliche Mensch diese wirklichen Tatsachen ab. Daher akzeptiert er nicht, dass er genau so wie Gautama Buddha selbst ist.“

Er verfällt dem Dualismus und gibt sich mit dem gewöhnlichen unerwachten Leben voller Täuschungen, vorgefasster Meinungen und Verdrängungen zufrieden. Damit gerät er immer wieder in den Teufelskreis der vermeidbaren Leiden. Ihm ist nicht klar, dass die Sein-Zeit die Wirklichkeit selbst ist, sondern er meint, davon getrennt zu sein. Infolgedessen erkennt er nicht, dass er ursprünglich mit Buddha identisch ist.


Nach der Lehre und Praxis des Buddha-Dharma ist es jedoch für jeden Menschen wirklich möglich, im Gleichgewicht zu sein, zu erwachen und damit genauso zu sein und zu leben wie Gautama Buddha und die großen Meister. Es bedarf allerdings der Ausdauer und des richtigen Übungsweges in Praxis und Theorie, um dies zu verwirklichen. Zazen ist dafür eine einzigartige Methode.

Dienstag, 10. Januar 2012

Neues Buch: Die Kraft der ZEN-Meditation



G. W. Nishijima, Yudo J. Seggelke
Im Auge des Zen, Band 4

Mit diesem Buch möchten wir die zentralen Kapitel von Meister Dōgen über die Zazen-Praxis zusammenstellen und erläutern. Bisher gab es eine solche verlässliche und dabei verständliche Zusammenfassung noch nicht. Zazen unterscheidet sich fundamental von den meisten im Buddhismus bekannten und praktizierten Formen der Meditation. Denn Zazen ist – wie es der große Zen-Meister Yakusan Igen formuliert »Nicht denken (Hishiriyo)«(!) und dadurch das eigene Kraftzentrum entdecken und stärken.


Und darin liegt u. E. die einzigartige Kraft. Wir möchten hinzufügen: Zazen ist keine Konzentration auf ein Objekt wie ein Bild, einen Kernsatz der buddhistischen Lehre oder ein Gefühl. Zazen ist nach unserer festen Überzeugung einfacher, natürlicher, leichter zu erlernen und passt in unsere jetzige Zeit. Gerade darin liegt die einzigartige Wirksamkeit und nachhaltige Kraft des Zazen, die wir in vielen Jahrzehnten unseres Lebens selbst erprobt haben und hiermit vorstellen wollen. In diesem Buch wird die Methode des Zazen praktisch und klar beschrieben.

Inhalt:
Allgemeine Richtlinien zur Zazen-Praxis von Meister
Dōgen (Fukan zazengi)
Die Zazen-Praxis und das Streben nach der Wahrheit
(Bendōwa)
Die heilende Bambusnadel des Zazen (Zazenshin)
Genaue Anleitung zur Zazen-Praxis (Zazengi)
Zazen ist der König der Samādhis (Zanmai ō zanmai)
Der Samādhi – ein Zustand wie das Meer (Kai-in zanmai)
Der Samādhi als Erfahrung des Selbst (Jishō-zanmai)

Diese Praxis beruht vollständig auf den authentischen Schriften des frühen Buddhismus und Meister Dōgens Shōbōgenzō, Die Schatzkammer des Wahren Dharma-Auges. Im Zen-Buddhismus hat die Zazen-Praxis eine einzigartiger Reife erlangt und ist nach unserer Erfahrung gerade für die heutige hektische, von Materialismus und Ideologien getriebene Zeit von größtem Wert, um Klarheit, Balance und Lebensfreude zu verwirklichen. Diese Zen-Meditation ist absolut verlässlich und keine modische Masche, die sich selbst ernannte »Meister« ausgedacht haben, und kein Trick von Geschäftemachern.

Wie kann man dabei am besten vorgehen, und welche Grundlagen des Zen müssen herangezogen und aufgearbeitet werden? Die Antwort lautet: Wir müssen auf die authentisch überlieferten und zuverlässig übersetzten Texte der großen Zen-Meister zurückgreifen und die Kommunikation mit einem wahren lebenden Meister suchen! Heute sind wir tatsächlich in der glücklichen Lage, Zugang zu authentischen Zen-Dokumenten zu haben: Eine umfassende, tiefgründige und absolut zuverlässige Beschreibung des chinesischen und japanischen Zen-Buddhismus bieten dabei die Werke von Meister Dōgen. Diese Einschätzung ist in der Fachwelt völlig unbestritten. Nishijima Roshi und ich möchten vor allem Dōgens Hauptwerk Shōbōgenzō hervorheben.

Der Stellenwert Dōgens für den ostasiatischen Buddhismus und für die gesamte Weltkultur der Gegenwart kann kaum überschätzt werden. Nishijima Roshi und ich wollen daher das Shōbōgenzō für einen größeren Kreis von Interessierten in einer gut verständlichen Sprache zugänglich machen.
Den Leserinnen und Lesern wünsche wir nun viel Engagement, wenn sie diesen Band in die Hand nehmen und sich darin vertiefen. Wir sind sicher, dass es für viele ein großer Gewinn ist.


Verkauf in jeder Buchhandlung und im Internet, z. B.














Mittwoch, 4. Januar 2012

Das Fortschreiten der Zeit in Augenblicken



Die Sein-Zeit hat die Tugend (und Eigenschaft), in einer Folge von Augenblicken vorbeizugehen.“

Dabei ist der gegenwärtige Augenblick identisch mit dem wahren Sein und der Existenz, also der Wirklichkeit. In vergangene Augenblicke sind keine Wirklichkeit mehr. Wir müssen uns daher im Geist für sie ganz öffnen, wenn wir die wirkliche damalige Situation nacherleben wollen. Dadurch können wir vermeiden, dass das frühere Erleben unzulässig verkürzt und vielleicht durch Emotionen in die eine oder andere Richtung verzerrt wird.


Die Aussage Dōgens können wir als Verbindung der Augenblicklichkeit und der gedachten Vergangenheit der Zeit verstehen. Zweifellos machen die Aussagen zur gegenwärtigen existenziellen Zeit das Wesentliche des Kapitels 11, Uji aus. Es spricht aber für die Realitätsnähe Dōgens, dass er auch den Ablauf der früheren Zeit grundsätzlich anspricht.

„(Die Zeit) schreitet (in diesem Sinne) vom Heute zum Morgen durch eine Folge von Augenblicken. Sie schreitet vom Heute zum Gestern, vom Gestern zum Heute, vom Heute zum Heute und sie schreitet durch eine Folge von Augenblicken vom Morgen zum Morgen.“

In diesen Sätzen wird die Verbindung der uns geläufigen Tagesangaben – gestern, heute und morgen – durch die Formulierung „die Folge von Augenblicken“ unterstrichen. Dōgen hält fest, dass die heutigen Augenblicke in ihrer Folge die ganze lebendige Wirklichkeit des Tages ausmachen. Dieses Grundprinzip der Sein-Zeit gilt selbstverständlich auch für das Morgen, das jeweils in der Gegenwart des morgigen Augenblicks Wirklichkeit und Existenz ist.

„Weil das Fortschreiten durch einzelne Augenblicke die Tugend (und Eigenschaft) der Zeit ist, werden die Augenblicke der Vergangenheit und Gegenwart weder oben auf einen anderen (vorherigen Augenblick) aufgeschichtet, noch in einer (gedachten) Linie aufgereiht.“

Mit dieser etwas eigenartigen Erklärung will Dōgen meines Erachtens verhindern, dass wir uns die Augenblicke als dinghafte und total isolierte Momente vorstellen, denn dies würde einem theoretischen Modell der Zeit auf der Ebene des Denkens und der Kommunikation entsprechen. Durch eine solche modellhafte Vorstellung der Zeit verfehlen wir die existenzielle Wirklichkeit des erlebten Augenblicks und verlieren uns in theoretischen und philosophischen Gedanken. Die einfache Botschaft ist: Öffne dich ganz der Wirklichkeit des Augenblicks, das ist das volle und wunderbare Leben! Theorien können das unmittelbare Erleben und Handeln in der Gegenwart nicht ersetzen und sind nicht die direkte umfassende Wirklichkeit im Jetzt.

Aus demselben Grund ist Meister Seigen Zeit. Meister Obaku ist Zeit und die Meister Baso Do-itsu und Sekito sind Zeit.“

Diese Meister lebten in der Zeit zwischen 700 und 850, also in der goldenen Zeit des Zen-Buddhismus in China. Dōgen will mit seinem Beispiel sagen, dass wir diese Meister, die er sehr verehrte, nicht als vergangene historische Persönlichkeiten verstehen sollen, sondern dass sie lebendige existenzielle Gegenwart für ihn und uns darstellen. Ihre Lehren sind nicht nur gedruckte Weisheiten, die man lesen und studieren kann, sondern sie sind wesentlich für die Wirklichkeit und Praxis von uns allen und daher Wirklichkeit im Augenblick.