Dienstag, 29. Januar 2013

Shigons Erwachen beim Anblick der Pfirsichblüten im Tal



Diese Erleuchtungs-Geschichte im Zusammenhang mit einem Naturerlebnis ist voller Poesie und Aussagekraft: Meister Reiun Shigon war laut Dōgen seit 30 Jahren ein „Sucher der Wahrheit“. Das bedeutet, dass er regelmäßig und ausdauernd Zazen praktizierte und sich voll und ganz dem Buddha-Weg widmete.

Eines Tages unternahm er eine Wanderung in den Bergen, ruhte sich am Fuß eines Hügels aus und blickte auf die entfernten Dörfer im Tal. Es war Frühling, und die Pfirsichblüten standen in voller, wunderbarer Blüte. Bei diesem Anblick verwirklichte Shigon plötzlich die Wahrheit. Spontan und lange Überlegung verfasste er die folgenden Verse:

„Dreißig Jahre lang, ein Wanderer auf der Suche nach (dem scharfen) Schwert (der Wahrheit).
Wie häufig fielen die Blätter und sprossen die Knospen?
Nach einem Blick auf die Pfirsichblüten
bin ich direkt in der Gegenwart angekommen und habe keine Zweifel mehr.“

Nachdem Shigon seine Verse dem Meister Dai-i vorgelegt hatte, sagte dieser: „Wer durch die äußeren Phänomene (in die Wahrheit) eingegangen ist, wird niemals zurückfallen oder schwanken.“

Diese bedeutende Geschichte über das Erwachen und die Erleuchtung schildert den Augenblick der Wirklichkeit eines alten Mönchs, der bereits viele Jahre praktiziert hatte. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er mit Willensstärke und Zielstrebigkeit oder gar Ehrgeiz die Erleuchtung gewinnen wollte, sondern im Gegenteil: Die Szene wirkt entspannt und frei von Stress und Absicht: Erruht sich am Fuße eines Berges von der Wanderung aus.

Durch den Anblick der wunderbaren Pfirsichblüten fallen alle bisherigen Begrenzungen und Hemmnisse des Denkens und der Emotionen von Shigon ab, die klare Wirklichkeit hat direkten Zugang zu ihm und führt zur Einheit mit der Natur und dem Universum. Als er jung war, hatte er das Erwachen als etwas Besonderes gesucht, das scharf wie ein Schwert und etwas Extremes im Leben sein würde. Er hatte die Erleuchtung und das Erwachen mystifiziert und sich in großartigen Erleuchtungsutopien verloren. Gerade dadurch hatte er sich selbst den Weg zur einfachen, aber wunderbaren Wirklichkeit verstellt.

Dies alles war bei seiner Rast von ihm abgefallen, und genau dann öffnete sich sein Körper-und-Geist für und durch die Natur. Nun lebte er nicht mehr in der Vergangenheit oder Zukunft, nicht mehr in Illusionen und Erwartungen sondern, wie es in dem Gedicht heißt, ganz in der Gegenwart.

Der große Meister Dai-i bestätigte sein Erwachen und fügte hinzu, dass jemand, der durch die Natur eine solche Wirklichkeit erfahren hat, nicht mehr in frühere begrenzte Vorstellungen und Bewertungen zurückfällt. Er unterliegt keinen Verunsicherungen und Schwankungen mehr und kennt kein ängstliches Zaudern. Die Natur ist im direkten Erleben unkompliziert und spricht zu uns ohne Worte. Sie lehrt direkt den Dharma-Wahrheit für alle, die offen sind und die Wahrheit der Natur „verstehen“, wie es bei Dōgen in einem anderen Kapitel heißt.

Sicher gibt es auch viele falsche Erleuchtungserlebnisse, die auf Illusionen beruhen und lediglich gewisse psychische Ausnahmezustände und Halluzinationen sind. Viele mögen sich die Erleuchtung einbilden und täuschen sich damit selbst. Leider versuchen auch manche Lehrer, solche illusionären Geisteszustände bei Zuhörern und Schülern zu erzeugen.

Damit verwischen sie aber gerade den Unterschied zwischen Ideen und Wirklichkeit. Nishijima Roshi betont in aller Klarheit, dass es unmöglich ist, aus der Welt der Ideen, also dem Idealismus, in den Zustand der Erleuchtung zu gelangen. Dieser Ansatz zur Befreiung war meines Erachtens der fundamentale Irrtum des großen griechischen Philosophen Plato, der einen erheblichen Einfluss auf die abendländische Geschichte ausübte.

Nishijima Roshi kommentiert Shigons Erleuchtung folgendermaßen:
„Meister Shigon hatte mehr als 30 Jahre Zazen praktiziert, und eines Tages machte er einen Spaziergang in den Bergen zur Erholung. Als er am Fuße eines Berges Rast machte, sah er auf eine großartige Szenerie von Pfirsichblüten, die in den Feldern voll erblüht waren. Und dann wurde ihm sonnenklar, dass diese Welt wirklich existiert. Wir können daher annehmen, dass die Wirklichkeit sich manchmal (jäh) durch die äußere Welt (wie hier die Natur) offenbart.“

Donnerstag, 24. Januar 2013

Plötzliche Klarheit des Mönchs Hotatsu über das Lotos-Sutras


 Dōgen erzählt die Geschichte von Hotatsu, der schon in jungen Jahren Mönch wurde und sich vollständig dem Lotos-Sūtra verschrieben hatte. Er prahlte sogar damit, dass er das Sūtra auswendig hersagen könne und bereits mehr als 3000 Mal rezitiert habe. Er war zum großen Meister Daikan Enō gewandert, der berühmt wegen seiner Kenntnis des Lotos-Sutra war, und wollte sich mit ihm messen. Dieser Meister konnte selbst nicht lesen und schreiben, zeigte ihm jedoch schon beim ersten Gespräch seine Grenzen auf:

„Auch wenn du das Sūtra zehntausendmal (rezitiert hättest), wirst du nicht einmal in der Lage sein, (deine eigenen und andere) Fehler zu erkennen, wenn du es nicht wirklich verstanden hast.“

Daraufhin wurde der Mönch Hotatsu sehr nachdenklich und war tief verunsichert, seine Überheblichkeit war total verflogen. Meister Daikan Enō schlug ihm vor, den Text bis zu einer Stelle zu rezitieren, an der er ihm die große Bedeutung dieses Sūtra erläutern wolle. Dies sei nämlich die umfassende Lehre und Weisheit von Gautama Buddha selbst, und sie werde auf verschiedenen Wegen und mit tiefgründigen Gleichnissen angesprochen, aufgedeckt, erklärt und verwirklicht. Dadurch könne man sich selbst den Zugang zu dieser tiefen Weisheit eröffnen. Er fügte hinzu:
Du musst jetzt darauf vertrauen, dass Buddhas Weisheit einfach dein eigener natürlicher Zustand des Geistes ist“ und untermauerte seine Worte mit einem eigenen Gedicht:

Wenn der Geist in Täuschung ist, dreht sich die Blume des Dharma (ohne uns).
Wenn der Geist in der Verwirklichung ist, drehen wir selbst die Blume des Dharma.
Wenn wir nicht Klarheit über uns selbst haben, wird (das Sūtra) wegen seiner Energie
(sogar unser) Feind, ganz gleich, wie häufig wir es rezitieren (!).
Ohne (selbstsüchtige) Absicht ist der Geist wahrhaftig.
Mit (selbstsüchtiger) Absicht wird der Geist falsch.
Wenn wir dieses ‚mit und ohne‘ (Absicht) überschreiten,
fahren wir ewig mit dem weißen Ochsengespann.“

Daikan Enō erläuterte dann dem Mönch den Kern des Lotos-Sūtra und fügte hinzu, dass die meisten Probleme durch die eigenen, subjektiven Vorstellungen und Illusionen entstehen, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Wenn die Illusionen platzen, und das kommt mit Sicherheit früher oder später, sind wir tief erschüttert und fallen meist in Verzweiflung. Aber wie können wir gravierende Täuschungen vermeiden? Auch wenn wir unseren diskursiven Verstand und unterscheidenden Intellekt bis zum Äußersten anstrengen und damit immer weiter fortfähren, werden wir uns trotzdem von der großen Weisheit des Sūtra immer weiter entfernen und keine Klarheit erlangen.

Nicht jeder erkennt jedoch den Wert der authentischen Lehre. Gautama Buddha gestattete seinen Zuhörern zum Beispiel bei einer seiner berühmten Lehrreden, ihren Platz zu verlassen und fortzugehen, wenn sie mit dem Gesagten nicht einverstanden waren. Dadurch drehte sich die Dharma-Blume aber ganz ohne sie, und sie haben sich selbst schwer geschadet und keine Klarheit erlangt.

Nach Dōgen gibt es nur ein authentisches buddhistische Fahrzeug, das auch in der Gegenwart unverändert gültig ist, und durch dieses Fahrzeug gelangen wir zur wirklichen Klarheit. Diese Wirklichkeit ist keine Vorstellung und kein Begriff, dann wäre sie mit Illusionen behaftet, sondern der Schatz der Dharma-Blume selbst, der uns schon immer gehört hat. Das Sūtra der Blume des Dharma sei als Wirklichkeit immer anwesend, von Zeitalter zu Zeitalter, vom Morgen bis zum Abend und in jedem Augenblick. Wir legen diesen großen Schatz niemals aus der Hand, es gibt überhaupt keine Zeit, in der wir das Sūtra nicht „lesen“, denn es ist das Universum selbst.

Der Mönch Hotatsu erfuhr plötzlich bei diesen Worten und durch die Kraft und Austrahlung Daikan Enōs das große Erwachen und sprang vor Freude in die Höhe. Spontan verfasste er das folgende Gedicht:

„Dreitausendmal (habe ich) das Sūtra rezitiert:
Vergessen durch einen Satz des Meisters vom (Berg) Sōkei.
Vor der Klärung der zentralen Bedeutung von (Buddhas) Erscheinen in der Welt:
Wie können wir verhindern, dass die sinnlosen Leben wiederkehren?
(...)
Ursprünglich sind wir Könige im Dharma.“

Anschließend erhielt Hotatsu vom Meister die Bestätigung und Dharma-Übertragung sowie den Namen „Der sūtralesende Mönch“. Bei dieser Begebenheit, so schildert Dōgen, begann sich die Blume des Dharma durch Meister Daikan Enō immer weiter zu verbreiten, als Blume des Dharma, welche die Blume des Dharma immer wieder dreht. Bis dahin hatte es diese große Wahrheit des Drehens der Dharma-Blume als Gleichnis für das Erwachen nicht gegeben.

Montag, 14. Januar 2013

Die Erleuchtung des Mönchs Shikan




Eine im Zen-Buddhismus bekannte Geschichte handelt von dem späteren Meister Shikan, der die Wahrheit des Buddhismus, also die Erleuchtung, unter dem Zen-Meister Dai-i in der goldenen Zeit des Zen-Buddhismus erlernte. Dai-i sagte zu seinem Schüler:

„Du bist von scharfem und brillantem (Verstand) und hast ein umfassendes Verständnis (der buddhistischen Lehre). Sag mir einen Satz über den Zustand, den du hattest, bevor deine Eltern geboren waren, ohne dass du aus irgendeinem Text oder Kommentar zitierst.“

Diese berühmte Zen-Frage kommt in mehreren Kōan-Gesprächen vor und wird auch noch heute einigen Schülern von ihren Meistern gestellt. Es handelt sich dabei nicht um eine intellektuelle Frage nach der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sondern um die direkte Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick.

Insofern ist der Verweis auf die Eltern und besonders auf die Zeit vor deren Geburt fast als Falle für den Verstand anzusehen. Wenn man darauf eingeht, gerät man in intellektuell nicht aufzulösende Widersprüche und Spekulationen, aus denen es kein Entkommen gibt. Bei der Wirklichkeit ist es nämlich unwesentlich, ob es sich um die Vergangenheit oder irgendeinen anderen Zeitabschnitt der linearen Zeit handelt, sondern es geht allein um die unverstellte, direkte Erfahrung im gegenwärtigen Augenblick.

Wie Dōgen im Grundlagen-Kapitel der buddhistischen Lehre beschreibt, ereignet sich die Wirklichkeit von uns selbst, der Welt und dem Universum nur im gegenwärtigen Augenblick, wenn wir Gedanken und Emotionen überschreiten oder, wie Dōgen es ausdrückt, „fallen lassen“. Ganz falsch wäre es also bei obiger Frage zum Beispiel, sich bestimmte Gesichtszüge der Eltern vorzustellen, Bilder etwa durch archaisches, mythisches Versenken aus einer Art „Ursumpf“ hervorzuholen und dies vielleicht mit der Lehre der Wiedergeburt zu verbinden.

Der Schüler Shikan suchte in mehreren Anläufen nach einer passenden Antwort, die seinen Meister zufriedenstellen könnte, aber es gelang ihm nicht. Er strengte seinen Körper und Geist an, so sehr es ihm überhaupt möglich war, und er versuchte, sein umfangreiches Wissen aus den Schriften und buddhistischen Sūtras auszublenden, aber ohne jeden Erfolg.

Schmerzhaft empfand er seine eigene Unfähigkeit und litt unter seiner angeblichen Dummheit. Als Konsequenz verbrannte er alle seine Bücher und Kommentare, da sie sich für ihn als völlig nutzlos erwiesen hatten, und kam zu dem Schluss, dass „ein Reiskuchen, der in einem Bild gemalt ist, den Hunger nicht stillen kann.“ Diese Worte sind später eine berühmte Zen-Aussage geworden, die Dōgen im Shōbōgenzō eingehend untersucht.

Shikan legte den Schwur ab, dass er jeden Versuch, den Buddha-Dharma durch Denken zu ergründen, sofort und dauerhaft abbrechen würde. Mehrere Jahre lang diente er gewissenhaft als einfacher Mönch im Kloster, indem er niedere Arbeiten ausführte. Gegenüber seinem Meister bezeichnete er sich als „töricht und dumpf im Körper und Geist und als unfähig, die Wahrheit zu sagen.“ Schließlich bat er seinen Meister inständig darum, ihm dabei zu helfen, aus dieser für ihn aussichtslosen Situation herauszufinden.

Aber Meister Dai-i lehnte eine solche Hilfe entschieden ab:
„Ich hätte nichts dagegen, dir etwas (Hilfreiches) zu sagen, (aber wenn ich dies täte) würdest du vielleicht später Groll gegen mich hegen.“

Offensichtlich war er sich sicher, dass sein Schüler den notwendigen Schritt zur Wahrheit irgendwann ganz allein bewältigen würde und dass theoretische Erklärungen dies eher verhindern statt fördern würden. Die buddhistische Wahrheit müssen wir letztlich immer selbst finden, ein Lehrer kann uns das nicht abnehmen.

Nachdem Shikan viele Monate und Jahre den Mönchen gedient hatte, entschied er sich, das Kloster zu verlassen und auf den Spuren des großen Landesmeisters Daisho zu gehen. Er zog sich auf einen Berg zurück und lebte dort allein im Einklang mit der Natur und der buddhistischen Wahrheit. An dem Ort, an dem auch der legendäre Meister gelebt hatte, baute sich Shikan eine einfache Hütte mit einem Strohdach. Er pflanzte Bambus und – wie Dōgen es ausdrückt – „machte ihn zu seinem Freund“.

Seinen früheren Ehrgeiz, die buddhistische Lehre zu verstehen, hatte er aufgegeben, er wollte nicht mehr umfangreiche Sūtras und Kommentare studieren und nach der großen Erleuchtung streben. Stattdessen führte er ein wirklich einfaches Leben in der Natur und mit der Natur und sah die Jahreszeiten kommen und gehen. So freute er sich daran, dass sein Bambus wuchs und gedieh und kräftige Stangen bildete.

Eines Tages geschah etwas für ihn völlig Unerwartetes: Als er seinen Weg vor der Hütte fegte, löste sich ein kleiner Kieselstein vom Boden, traf auf das Rohr des Bambus und erzeugte dabei einen Ton wie ein „Bong“. Durch diesen unmittelbaren Ton, den er ohne jeden intellektuellen Anspruch hörte, war er direkt in der Wirklichkeit angekommen. „Bong“ – das war die Wahrheit der Natur: einfach, direkt und unkompliziert! Und die Wahrheit der Natur ist auch im Universum und in uns selbst. So einfach und wunderbar sind das Leben und das Universum.

Shikan nahm ein erfrischendes Bad, reinigte sich gründlich, entzündete ein Räucherstäbchen und machte in tiefer Dankbarkeit Niederwerfungen in die Richtung des Berges und Klosters seines Meisters Dai-i.

Schlagartig war ihm klar geworden, dass sein Meister ihm wie kein anderer geholfen hatte, nur durch die eigene Erfahrung zur Wirklichkeit zu gelangen, die sich ihm jetzt und völlig unerwartet eröffnet hatte. Sein Meister hatte ihm keine verbale Erklärung gegeben und seine Fragen nach der Erleuchtung nicht beantwortet, denn wahrscheinlich hätten solche vorgegebenen Antworten ihm für immer den Weg zum Erwachen versperrt. Er erkannte das tiefe Mitgefühl seines Meisters für seine damalige verzweifelte Situation und sagte: „Die Tiefe seiner Güte übersteigt die der Eltern.“ Dieser Satz stellt den Bezug zur ursprünglichen Frage des Meisters her.

Der Klang des Kieselsteins, der das Bambusrohr traf, vertrieb alle Vorstellungen und angestrebten Ziele. Die Wirklichkeit und Shikan selbst waren plötzlich eine Einheit. Dōgen beschreibt hier sein eigenes tiefes Verständnis der Erleuchtung, die nicht mit dem Willen und mit Gewalt erreicht werden kann, sondern sich jäh und unerwartet ereignet, wenn sich durch jahrelange Praxis und Bescheidenheit die notwendige Offenheit und Direktheit bei uns selbst entwickelt haben. Gerade die enge Beziehung zur Natur und die Offenheit dafür sind eine große Chance, zur Wirklichkeit und Wahrheit zu finden.

Nicht zuletzt wird dann die Ich-zentrierte Selbstinszenierung oder eigene narzisstische Überhöhung völlig ausgeschaltet. Gerade Menschen mit einem scharfen Verstand und einem hervorragenden Gedächtnis für die Lehren und Kommentare geraten in Gefahr, einer Selbstüberschätzung zu erliegen. Dadurch wird der direkte Zugang zur Wirklichkeit, die jenseits von analytischer Kompetenz und ausgefeiltem Reflexionsvermögen existiert, versperrt.

Das heißt nicht, dass Dōgen scharfsinniges Denken und präzises Erinnern ablehnt, sondern diese Fähigkeiten werden sozusagen dem unmittelbaren Erfahren der Wirklichkeit untergeordnet: Sie werden ohne Ich-Stolz eingesetzt und verhindern nicht den Zugang zur Buddha-Natur. Im Augenblick der Einheit mit der Wirklichkeit spielen gedankliche Analyse und Reflektieren ohnehin keine Rolle, da sie nur vor oder nach dem Augenblick des Geschehens wirksam werden können.

Dienstag, 8. Januar 2013

Gautama Buddhas Askese und Erleuchtung



(von Nishijima Roshi, editierte Fassung)

Leben als Asket
Obgleich Gautama Buddha von Alara Kalama die Lehre "des Zustandes, nichts zu haben" erhalten hatte, die Gelassenheit und sogar Gleichgültigkeit gegenüber jedem Eigentum beinhaltet und außerdem von Udraka Ramaputra die Lehre: "Den Zustand des Nicht-Denkens/des nicht Nicht-Denkens zu überschreiten", waren diese Philosophien der beiden Denker doch sehr intellektuell und nicht sehr praktisch. Wie sollte man damit ein reales Leben im Alltag führen?

Weil Gautama Buddha jedoch sehr praktisch veranlagt war, konnte er durch die Lehren dieser beiden Weisen nicht wirklich befriedigt werden, da sie für die Lebenspraxis wenig geeignet waren. Daher änderte Gautama Buddha seine Richtung bei der Suche nach der Wahrheit um einhundertachtzig Grad in das Gegenteil der Theorie: Er wollte jetzt ein asketisches Leben erproben, das im alten Indien durchaus populär war, er wollte unbedingt Asket werden. Gautama Buddha wollte die großen Fragen und Probleme des Lebens klären, indem er die physischen Bedingungen so schmerzhaft wie möglich gestalten wollte. Als Asket war daher seine Lebenseinstellung und Praxis überaus ernsthaft und extrem. Er reduzierte seine Nahrung und den Schlaf so weit, dass er manchmal sogar in Ohnmacht fiel.

Das Gerücht "Gautama stirbt" ging mehrmals durch die Wälder der Asketen. Aber Gautama Buddha fand dabei nur die einfache Tatsache, dass sein Geist gleichzeitig mit dem Körper dahinschwand und verdorrte. Je mehr und je härter er seinen physischen Körper peinigte, desto labiler wurde sein Geist. Mit anderen Worten wurde sein Leben mit jedem Tag immer instabiler, je länger er sein asketisches Leben fortsetzte. Dies traf ihn unerwartet, aber es war eine außerordentlich wichtige Erfahrung. Weil er ein sehr praktischer Mensch war, wurde ihm immer klarer, dass ein asketisches Leben völlig ungeeignet ist, um eine authentische Form und geistige Freiheit des Lebens zu erreichen. Wenn er diese wichtige Erfahrung nicht hätte machen können, ist es höchst unwahrscheinlich, dass der Buddhismus überhaupt erkannt hätte, dass ein asketisches Leben für die Suche nach der Wahrheit keinen Wert hat und das Asketentum auf dem Weg zur Wahrheit sogar schädlich ist.

Gautama Buddhas Erleuchtung
Gautama Buddha hatte am eigenen Leibe erfahren, dass ein asketisches Leben völlig sinnlos und ungeeignet ist, um Erleuchtung zu erlangen. Darüber verursacht es schwere körperliche, geistige und spirituelle Zerstörungen. Daher verließ er den Wald des asketischen Lebens in aller Entschiedenheit. Die dort übenden Asketen waren tief enttäuscht und argwöhnten, dass Gautama Buddha den Wald des harten asketischen Lebens verließ, weil es ihm an Ausdauer und Disziplin mangelte. Daher lachten sie über ihn und überhäuften ihn mit Verachtung und Vorwürfen. Wir können jedoch davon ausgehen, dass Gautama Buddha die starke und reine Absicht im Sinn hatte, die Wahrheit zu suchen. Es gab sicher bei ihm nur den klaren Willen, diese Wahrheit zu erlangen. Daher hatte Gautama Buddha die Askese abgebrochen, ohne überhaupt weiter von der Kritik der Asketen Notiz zu nehmen.

Als Er sich dann mühsam am Ufer des Flusses Nairanjana entlang schleppte, bemerkte ein kleines Mädchen mit Namen Sujata den siechen und bemitleidenswerten Zustand von Gautama Buddha und bot ihm Haferschleim zur Kräftigung an, den sie bei sich hatte.

Als Buddha den Haferschleim langsam und vorsichtig gegessen hatte, fühlte er sich etwas kräftiger und sein Körper und Geist erholten sich langsam. Er begann nun auf einem anderen Weg nach der Wahrheit zu streben, indem er bei der Yogapraxis anknüpfte. Gautama Buddha benutzte dabei eine Yogahaltung, die als die beste und wirkungsvollste im Yoga angesehen wird, nämlich den Lotos-Sitz. Diese Sitzpraxis ist dieselbe, die bis in die heutige Zeit beim Zazen verwendet wird.

Nachdem er eine solche Praxis längere Zeit fortgesetzt hatte, saß er an einem Wintermorgen im Zazen und bemerkte mit einem Mal, dass er nicht mehr im Bereich der Gedanken und Wahrnehmung weilte, sondern dass er nur im Bereich der Wirklichkeit selbst lebte. Diese Wirklichkeit war die Wahrheit, die er so lange gesucht hatte! In einem wichtigen Sutra heißt es, dass "Berge, Flüsse, Gras, Bäume vollkommen die Wahrheit geworden sind" und im Shobogenzo von Meister Dogen heißt es in derselben Weise: "Berge, Flüsse und die Erde sind zur Wahrheit geworden".

Daher können wir verstehen, dass Gautama Buddha plötzlich die eindeutige Erfahrung machte, dass diese Welt genau die Wirklichkeit ist und dass diese Welt genau die Wahrheit selbst ist. Was wir in unserem Gehirn erzeugen, kann niemals die Wahrheit werden und was wir durch unsere Sinneswahrnehmungen aufnehmen, kann ebenfalls niemals die volle Wahrheit oder Wirklichkeit sein. Was wir genau im gegenwärtigen Augenblick tun, ist die Wahrheit und ist genau die Wirklichkeit.

Daraus wird schlagartig klar, dass die beiden großartigen westlichen Philosophien des Idealismus und Materialismus niemals die volle Wahrheit sein können. Sie sind nur eine Art von Vorstellung, Illusionen und Täuschungen im Gegensatz zum Handeln im gegenwärtigen Augenblick, durch das wir direkt in die Wirklichkeit und die Wahrheit kommen. Denn gerade die Zazen-Praxis ist Handeln im Augenblick, ohne Täuschungen, Illusionen oder Angst. Das Handeln, das wir im gegenwärtigen Augenblick vollziehen, ist die wirkliche Existenz des Universums und daraus ergibt sich zwingend die Einheit des menschlichen Handelns mit dem realen Universum als die Wirklichkeit selbst. Dies ist eine einfache Tatsache im gegenwärtigen Augenblick und dies ist genau die Erleuchtung.

Dienstag, 1. Januar 2013

Gautama Buddhas Wille zur Wahrheit


(von Nishijima Roshi, editierte Fassung)


Durch die Fürsorge seines Vaters schien Gautama Buddha glücklich zu sein, aber in Wirklichkeit war er nicht im Gleichgewicht und litt unter schwankenden Stimmungen und Gefühlen. Seit seiner Jugend wollte er mit großem Ernst wissen, ob die  Wahrheit in der Welt als Wirklichkeit existiert oder nicht. Er dachte, dass er diese Wahrheit selbst in aller Klarheit erlangen wollte, wenn es sie wirklich in der Welt gab. Obgleich er verheiratet war und einen Sohn hatte, litt er an dem bohrenden Zweifel, ob es nicht besser wäre, ein Mönch zu werden.

Gautama Buddha hatte in jener Zeit nicht die Freiheit, einfach in die nahe gelegene Stadt zu gehen, weil dies gegen den Befehl seines Vaters verstieß, aber eines Tages versuchte er einfach das Schloss zu verlassen. Zunächst versuchte er durch das Osttor hinaus zu gelangen, und schon bald traf er einen Menschen, der sehr alt und gebrechlich war. Dieser erschütterte ihn wegen seines elenden Zustandes sehr. Er wandte sich um und wollte durch das Südtor hinausgehen, traf aber wieder einen Menschen, der von starker Krankheit gezeichnet war, so dass er wieder umkehrte und dann durch das Westtor hinausgehen wollte. Dort traf er eine Prozession, die zu einer Begräbniszeremonie gehörte und einen Toten bei sich führte. Deshalb kehrte er schon fast verzweifelt wieder um. Anschließend verließ er das Schloss durch das Nordtor und dort erblickte er einen Mönch, der heiter und mit großer innerer Ruhe voranschritt. Als Gautama Buddha diesen Mönch genauer ansah, war er tief beeindruckt. Dieser heitere Mönch ohne allen Besitz verstärkte die große Anziehungskraft, die das Leben eines Mönches schon früher auf ihn ausgeübt hatte.

Abschied vom Familienleben
Nachdem Gautama Buddha lange Zeit hin und her überlegt hatte, entschied er sich endgültig, seine Familie zurückzulassen und ein religiöser Mönch zu werden. Haus und Familie zu verlassen bedeutet, dass ein Mann oder eine Frau Mönch oder Nonne wird, um der religiösen Wahrheit zu folgen. Ich nehme an, dass Gautama Buddha sich viele Gedanken und Sorgen darüber gemacht hatte, ob es moralisch zu vertreten sei, die Familie zu verlassen und nicht mehr für sie zu sorgen und sie nicht mehr unterstützen zu können. Aber es erschien ihm unmöglich, dem Drang nach der Wahrheit nicht zu folgen, denn dies war sein Ziel seit langer Zeit:

Er wollte den Menschen in der unruhigen schweren Welt helfen und sie retten, indem er die wirkliche Wahrheit der Welt finden und mit ihnen teilen wollte. Als er 29 Jahre alt war, sagte er seinem Diener mit dem Namen Channa, dass er sein weißes Pferd in den Garten des Schlosses bringen solle. Dann verließ Gautama Buddha das Schloss unbemerkt, er hatte seine Familie vorher nicht über seine Pläne eingeweiht. Der Diener Channa folgte Gautama Buddha bis zu einem Hain mit dem Namen Anupiya und dort gab Gautama Buddha Channa den Befehl, zu seinen Eltern und seiner Familie zurückzukehren. Er nahm die wertvollen Kleider Gautama Buddhas auf dessen Bitte mit sich, die dieser nicht mehr tragen wollte. So machte sich Gautama Buddha auf, nach der Wahrheit zu forschen.

Die beiden Denker als Lehrer von Gautama Buddha
Am Anfang seiner Suche nach der Wahrheit ging Gautama Buddha zu einem Denker mit Namen Alara Kalama, der nahe der Stadt Vaisali mit ca. 300 Schülern lebte. Er war vermutlich kein Brahmane, aber er war ein Denker mit einer neuen Lehre, der von sich behauptete, dass er "den Zustand nichts zu haben" erlangt hatte. Wir Menschen haben im Allgemeinen immer das Verlangen nach bestimmten Dingen und Besitztümern. Aber Alara Kalama vertrat mit Nachdruck den hohen moralischen Wert, nicht irgendeine Sache oder materielle Dinge haben zu wollen und nicht an ihnen zu hängen. Im Allgemeinen haben die Menschen starkes Begehren etwas zu besitzen. Eine solche Schwäche ist manchmal sehr gefährlich und macht die Menschen blind für konkrete Gefahren und Fehlentwicklungen. In diesem Sinne lehrte uns Alara Kalama, nicht gierig zu sein. Aber Gautama Buddha verstand schon bald, dass der Ansatz von Alara Kalama sehr intellektuell und nicht sehr praktisch war. Daher entschloss er sich, ihn zu verlassen und einen anderen Denker aufsuchen.

Dieser zweite Denker, den Buddha besuchte, war Udraka Ramaputra. Es wird berichtet, dass Udraka Ramaputra nicht weit entfernt von dem Ort des Alara Kalama lebte, aber die Überlieferung ist in diesem Fall nicht ganz sicher, weil auch andere Orte infrage kommen. Der Name Udraka Ramaputra bedeutet “das Kind von Rama“ und es wird berichtet, dass dort insgesamt ca. 700 Schüler zusammenlebten. Er war selbst vollständig überzeugt von seiner eigenen Lehre, die etwa beinhaltet: "Der Zustand des Nichtdenkens; des nicht Nichtdenkens". Diese Lehre könnte etwa Folgendes bedeuten: "Der Zustand, in dem man Denken und Sinneswahrnehmung überschreitet". Wir können aber annehmen, dass diese beiden ersten Lehrer und Denker im Bereich des abstrakten Denkens und der theoretischen Lehre verharrten, obgleich sie teilweise durchaus realistische Philosophien vertraten. Gautama Buddha fand es jedoch schwierig, ihre philosophischen Standpunkte als fundierten Realismus und als Wirklichkeit selbst anzunehmen. Er spürte: Philosophien bleiben immer im Dualismus, sie sind nicht die ungeteilte Wirklichkeit selbst, die mit Denken und Worten nicht erfasst werden kann und allein das große Gleichgewicht von Körper und Geist realisiert.