Sonntag, 17. November 2013

Die Klarheit verwirklicht sich im konkreten Handeln


Dōgen zitiert dann Meister Unmon, den Nachfolger von Meister Seppō:

„Jeder Mensch besitzt vollständig die strahlende Klarheit. Wenn er sie (aber begierig) sucht, ist sie unsichtbar in der tiefsten Dunkelheit. Was ist diese strahlende Klarheit, die in allen Menschen existiert?“

Da die vor Unmon versammelten Mönche nichts antworteten und wohl auch nicht antworten konnten, sagte er selbst:

„Die Mönchshalle, die Buddha-Halle, die Küche und die drei Tore.“
Das klingt eigentlich fast zu simpel, aber Dōgen lobt diese Aussage des Meisters sehr: sie sei identisch mit dem wahren Buddha-Dharma; sie sei keine Spekulation, sondern die Wirklichkeit selbst.

Dōgen betont, wie wichtig der gegenwärtige Augenblick für die Wirklichkeit der intuitiven umfassender Klarheit ist, und sagt, dass sie weder in der Zukunft erscheinen wird, noch in der Vergangenheit geleuchtet hat. Damit will er ausdrücken, dass Vergangenheit und Zukunft nur schemenhafte Objekte im denkenden Geist sind und nicht in der Wirklichkeit des Augenblicks von Körper-und-Geist. Außerdem erklärt er, dass die leuchtende Klarheit natürlich und das wahre Wesen des Menschen ist. Sie sei nicht angelernt oder künstlich erzeugt, sondern genau der natürliche Zustand, von dem nichts weggenommen und dem nichts hinzugefügt worden ist.

„Jeder Augenblick der Klarheit besitzt auf natürliche Weise den Augenblick der Klarheit, jeder Augenblick der Existenz besitzt jeden Augenblick der Existenz.“

Eine solche Formulierung des Rückbezuges auf sich selbst, die in der Systemtheorie auch Selbstreferenz genannt wird, ist durchaus typisch für Dōgen und offenbart nicht zuletzt seine poetische Kraft und Ausdrucksweise.

Die strahlende Klarheit weist allerdings bei jedem Menschen individuelle Ausprägungen auf. Das heißt, es gibt keine abstrakte Klarheit, die bei allen Menschen gleich ist, sondern es geht immer um das ganz konkrete Handeln der einzelnen Menschen im Hier und Jetzt:

„Die strahlende Klarheit ist der individuelle Mensch, der den jeweiligen spezifischen Zustand der strahlenden Klarheit vollständig besitzt.“

Die obige Geschichte über Meister Unmon ist auch in der Kōan-Sammlung Shinji Shōbōgenzō aufgeführt. Danach sagt der Meister am Ende:
„Es ist besser, wenn sogar gute Dinge nicht existieren.“

Was meint er damit? Ist das nicht ein buddhistischer Widerspruch in sich? Nein, gerade nicht! Ob Dinge gut oder schlecht sind, unterliegt nämlich hinzugesetzten Bewertungen, aber ist nicht die Wirklichkeit selbst. Nishijima Roshi gibt dazu die folgende Erklärung:

„Das Licht, (das hier symbolisch für die Wirklichkeit steht), beleuchtet alle Dinge, aber wir können das Licht selbst nicht sehen.“
Denken wir zum Beispiel an das Tageslicht: Dadurch wird unsere Umgebung und alles, was wir sehen, beleuchtet. Ohne das Licht ist alles unsichtbar. Nishijima Roshi vergleicht das Licht mit der Wirklichkeit, die im Buddhismus so außerordentlich geschätzt wird, und erläutert, dass wir das Licht genau wie die Wirklichkeit nicht als Objekt sehen und denken können. Die Wirklichkeit umfasst auch den Geist, der diese Gedanken denkt, aber sie ist gerade nicht auf den isolierten Geist beschränkt. In diesem Sinne wird in der Geschichte über Meister Unmon die Wirklichkeit der Zazen-Halle, der Buddha-Halle, der Küche und der Tempeltore genannt, die wir als umfassende Wirklichkeit direkt erfahren. Aber diese Dinge sind nicht einfach Objekte außerhalb von uns selbst, obgleich sie materiell da sind, sondern sie haben zentrale buddhistische Funktionen, also Geist und Wahrheit des buddhistischen Lebens. Nishijima Roshi sagt:

Etwas Reales ist nicht in Geist und Materie getrennt.“
In diesem Satz Unmons geht es darum, dass Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen Gut und Schlecht oder Groß und Klein, nicht der Wirklichkeit angehören, sondern subjektiv von Menschen hinzugesetzt werden, sie sind nur auf der Sprachebene. Die Wirklichkeit ist jenseits von solchen Unterscheidungen. Wer also in Bewertungen gefangen ist, kennt noch nicht die volle Verwirklichung. Die Wirklichkeit ist genau vor uns, ohne jegliche Bewertung, genau so, wie sie ist.