Mittwoch, 30. Juli 2014

Der indische Gelehrte kann den Geist des Zen-Meisters nicht erkennen


Dōgen berichtet in einer Kōan-Geschichte von dem indischen Gelehrten Sanzō, der nach China gekommen war und von sich behauptete, er könne den Geist der Menschen erkennen. Der große Meister Daisho sollte dies auf Bitten des Kaisers der damaligen Tang-Dynastie prüfen. Er stellte dem Gelehrten die scheinbar einfache Frage: „Sage mir, wo (dieser) alte Mönch jetzt ist?“ Sanzō antwortete ohne wirklichen Bezug zur Frage und auf seltsame Weise konkretistisch.

Das Gleiche wiederholte sich, als der Meister seine Frage erneut stellte. Da diese Antwort den großen Meister Daisho ebenfalls keineswegs zufriedenstellte, wiederholte er seine Frage noch ein drittes Mal, erhielt dann aber überhaupt keine Antwort mehr. Daraufhin kritisierte er den Gelehrten scharf: „Du Geist eines wilden Fuchses, wo ist deine Kraft, den Geist anderer zu erkennen?“

Bei dieser recht harschen Kritik blieb der indische Gelehrte wiederum sprachlos, weil er offensichtlich nicht in der Lage war, ein sinnvolles Gespräch im Sinne des Buddha-Dharma mit einem wahren Meister zu führen. Seine beiden Antworten waren in der Tat recht vordergründig und viel zu einfach, nämlich nur materiell. Der indische Gelehrte Sanzō konnte also keineswegs den Geist des großen Meisters erkennen, wie er es vorher vollmundig gegenüber dem Kaiser behauptet hatte.

Dōgen macht hier deutlich, dass der Gelehrte nicht einmal in der Lage war, die konkreten Gedanken des anderen zu lesen. Wie viel schwieriger ist es, so sagt er, den Geist eines anderen umfassend zu erkennen, und dies umso mehr, wenn es sich um einen großen Meister und ewigen Buddha wie Daisho handelt. Gelehrtes Wissen und die Beherrschung mehrerer Sprachen haben also wenig damit zu tun, dass man den Geist anderer oder den eigenen Geist im Sinne des Buddha-Dharma erkennen kann. Nach dem Diamant-Sūtra gibt es hier grundsätzliche Grenzen, denn „der Geist kann nicht mit dem Verstand erfasst werden“.

Dōgen betont, dass man den Körper-und-Geist der buddhistischen Lehre nur erkennen, bewahren und weitergeben kann, wenn man theoretische und praktische Übungen der Buddha-Wahrheit verbindet, und er meint damit vor allem, dass man regelmäßig Zazen praktiziert.

Besonders bedauerlich fand es Dōgen im Falle von Sanzō allerdings, dass dieser seine einmalige Chance nicht erkannte, bei einem wahren Meister zu lernen. Darin besteht auch der grundsätzliche Unterschied zu einem anderen Gelehrten, Tokuzan. Dieser lernte aus seinem Misserfolg bei der alten Reiskuchenverkäuferin und wurde selbst Meister, während Sanzō seine große Chance, den wahren Buddha-Dharma zu lernen, vergab und so beschränkt weiterlebte wie vorher. Da ändern kleine Kunststücke wenig, die Sanzo vielleicht vorführen konnte, sie können nur einfache Gemüter beeindrucken.


Dienstag, 22. Juli 2014

Der Geist ist das ganze Leben und Sterben



Wie Dōgen in dem zentralen Kapitel des Shōbōgenzō „Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt“ ausführt, gibt es im Buddhismus eine unauflösbare Einheit der Wirklichkeit und Wahrheit einerseits und der wahren Zeit andererseits. Außerdem sind Geist und Zeit ohne jeden Abstand und ohne jede Unterscheidung, sodass „kein Haar dazwischen passt“.

Diese Einheit, die Überwindung des Dualismus, kann durch unterscheidendes Denken nicht erfahren werden, denn dies basiert auf der Tätigkeit des Verstandes und kann daher nur die gedankliche und theoretische Teilsicht der Wirklichkeit und Wahrheit vermitteln. Solche Gedanken und Ideen des Menschen, und seien sie noch so intelligent, sind damit nur ein kleiner Teil des hier von Dōgen beschriebenen Geistes, der nicht erfasst werden kann, und dürfen nicht mit ihm verwechselt werden.

Wir gelangen mit Dōgen zu der wesentlichen Aussage:

Der Geist ist das ganze Leben und Sterben sowie Kommen und Gehen, ist also das Handeln und das Leben selbst.

Diese totale Wirklichkeit kann nicht durch Denken erfasst werden, sondern es gibt nur einen umfassenden intuitiven Zugang in der Gegenwart, im klaren Hier und Jetzt und im tätigen Handeln. Damit verschiebt sich die Frage, ob man den Geist erfassen kann oder nicht, dahingehend, dass die umfassende Wirklichkeit des Hier und Jetzt nicht vollständig begriffen und schon gar nicht mit dem unterscheidenden Verstand gedacht werden kann.

Diese Wirklichkeit umfasst sowohl die Lehre des Buddhismus als auch alle konkreten Gegebenheiten und Dinge wie Mauern, Zäune, Ziegel und Kieselsteine - in der Tat eine für westliches Denken erstaunliche Aussage. Dann ist diese Wirklichkeit also ganz real, vielfältig und unser Alltag. Der Geist offenbart sich laut Dōgen in der Wirklichkeit, der buddhistischen Praxis und im Alltag. Er ist nichts Dauerhaftes oder Statisches und bleibt nicht irgendwo konstant am Ort oder im Ablauf der Zeit. Aber je nach Klarheit des Menschen gibt es sehr unterschiedliche konkrete Zustände eines solchen handelnden Geistes:

"Erleuchtung ist Feuerholz tragen und Wasser schöpfen"

Das Denken über den Geist kann also mit dem Bild des Reiskuchens verglichen werden, auf das Dōgen im Kapitel „Die Stimmen des Tales und die Form der Berge“ eingeht. Dieses Bild ist ein stark vereinfachtes Modell der Wirklichkeit. Als solches ist es durchaus von gewissem Nutzen. Aber man kann dieses Modell nicht essen, um seinen Hunger zu stillen und sich zu ernähren.


In diesem Sinne kannte der Gelehrte Tokuzan zunächst nur die Theorie des Diamant-Sūtra, hatte also nur das Abbild oder Modell der Wirklichkeit erfasst. Erst durch das Lernen in der Praxis unter einem wahren buddhistischen Meister konnte er zur Wirklichkeit, Wahrheit und Freiheit vorstoßen. Erst dadurch wurde er von einem Gelehrten zu einem buddhistischen Lehrer und Meister, der anderen Menschen den Buddha-Dharma lehren konnte.

Donnerstag, 3. Juli 2014

Die alte Frau verkauft keinen Reiskuchen an den großen Gelehrten





Dōgen gibt eine bekannte Geschichte über die Begegnung eines Gelehrten mit einer einfachen Frau wieder, die am Wegesrand Reiskuchen verkauft. Er zitiert dabei eine zentrale Aussage aus dem Diamant-Sūtra:

„Der vergangene Geist kann nicht erfasst werden, der gegenwärtige Geist kann nicht erfasst werden, und der zukünftige Geist kann nicht erfasst werden.“

Um zu erfahren, was dieser Satz wirklich bedeutet und was es heißt, dass der Geist nicht erfassbar ist, sind nach Dōgen theoretische Studien unzureichend, da die Lehre des Buddha-Dharma unauflösbar mit der Praxis und der authentischen Übertragung durch einen wahren Meister verbunden ist. Dies wird durch die Geschichte von der alten Verkäuferin und dem berühmten Gelehrten Tokuzan beleuchtet.

Er war der große Experte des Diamant-Sūtra und hatte umfangreiche Kommentare dazu verfasst. Auf sein intellektuelles Können war er sehr stolz, und er nahm sich selbst außerordentlich wichtig. Auf einer Reise zu einem konkurrierenden Meister begegnete er der alten Reiskuchenverkäuferin. Tokuzan stellte sich ihr als „König des Diamant-Sūtra“ vor und bat sie, ihm Reiskuchen zu verkaufen, weil er seinen Geist erfrischen wolle.

Sie wollte ihm jedoch nur Kuchen verkaufen, wenn er ihr eine Frage beantworten könne, und sie sagte:

„Ich habe gehört, dass es im Diamant-Sūtra heißt: ‚Der vergangene Geist kann nicht erfasst werden, der gegenwärtige Geist kann nicht erfasst werden, und der zukünftige Geist kann nicht erfasst werden.‘ Welchen Geist willst du mit meinem Reiskuchen erfrischen?“

Der Gelehrte war verblüfft, und es verschlug ihm tatsächlich die Sprache. Daraufhin weigerte sich die alte Frau konsequent, ihm die gewünschten Reiskuchen zu verkaufen. Er empfand das Ganze als eine sehr bittere Niederlage.

Schließlich überwand Tokuzan jedoch seinen geistigen Hochmut und setzte seine Reise zu dem großen Meister fort, den er nicht mehr als Konkurrent ansah. Er wurde dessen Schüler und erhielt schließlich die Dharma-Übertragung und Bestätigung als buddhistischer Meister. Sein bisheriges rein theoretisches Verständnis hatte er überwunden und die Praxis von Körper-und-Geist erlernt. Erst damit hatte er Zugang zum wahren Inhalt des Diamant-Sūtra gefunden.

Was bedeutet nun die Aussage, dass der Geist nicht erfasst werden kann? Dōgen lehnt die Spekulation ab, dass es gar keinen Geist gibt und dass man ihn schon deswegen nicht erfassen könne. Das wäre zu einfach. Er widerspricht auch der Vorstellung, dass der Geist jedem einzelnen Menschen schon immer auf selbstverständliche Weise innewohnt und deshalb nicht erfasst werden kann. Diese beiden Ansichten entspringen theoretischem Denken und stimmen nicht mit dem Buddha-Dharma überein.

Allerdings sei es in Bezug auf die obige Geschichte nicht klar, ob die alte Frau wirklich mit ihrem Reden und Handeln in der Wahrheit des Buddha-Dharma gewesen ist, gibt Dōgen zu bedenken. Der Gelehrte Tokuzan hätte sie selbst nach dem Geist befragen müssen, damit sie ihrerseits hätte erklären müssen, wie sie die Aussage des Diamant-Sūtra versteht. Das war aber nicht geschehen.

Dōgen sagt, dass eine solche Frage nur jemand stellen kann, der
das strahlende Licht und die klare Erscheinung eines ewigen Buddhas hat“.



Dabei müsse es zu einem buddhistischen Handeln des „Aufgreifens und wieder Loslassens“ kommen, und man dürfe sich weder auf die eine noch auf die andere Idee und Antwort versteifen und daran festhalten. Das habe Gautama Buddha ganz eindeutig gelehrt: Der Buddhismus ist keine Ideologie sondern eine praktische Lebens-Philosophie.