Mittwoch, 4. November 2015

Das Es ist der klare Zen-Geist


Den Augenblick, wenn sich zwei Menschen jäh und wirklich begegnen, vergleicht Dōgen damit, dass der Frühling die Frühlingszeit des Augenblicks trifft und dass sich eine solche Weisheit ohne großartige Planung und ohne egoistische Absicht unmittelbar ereignet. Denken und Bewusstsein spielen dabei eine untergeordnete Rolle, und es ist unwichtig, ob ein solcher Vorgang im Augenblick bewusst ist oder nicht.

„Das ES ereignet sich, weil der Körper-und-Geist (der Menschen), die solche Weisheit haben, schon nicht ihr eigener ist. Dies ist der Zustand, von dem es heißt, der Mensch könne  vertrauen und sofort verstehen.“

Bei unseren oft nutzlosen und planlosen Anstrengungen des Lebens wissen wir nicht, dass wir diese Perle der Weisheit und des klaren Zen-Geistes, der den Körper einschließt, besitzen. Dōgen spricht davon, dass dieser Körper-und-Geist einem Juwel gleicht, der von einem ganz gewöhnlichen Stein umschlossen ist.
Und weder der äußere Stein noch der innere Juwel wissen voneinander, denn der Juwel ist noch nicht zur klaren Wirklichkeit geworden. Eine solche Verwirklichung bedarf jedoch nicht des angehäuften Wissens und nicht der intellektuellen Schärfe des Verstandes.

Es gibt die Worte: "Jene (Menschen), die ohne Weisheit sind und (immer) zweifeln, verlieren (die Weisheit des Geistes) für immer.“

Nishijima und Cross erklären an dieser Stelle unmissverständlich:

„Verwirklichung im Zazen ist zum Beispiel die innewohnende Funktion des Menschen, die den erlernten mentalen Fähigkeiten wie Erwartung, Wissen und Denken überlegen ist.“[i]

Solche Augenblicke des Zen-Geistes sind von unmittelbarer Kraft und Klarheit. Dōgen vergleicht sie mit der Existenz der Pinien im Frühling und den Chrysanthemen im Herbst. Diese Augenblicke sind keine Idealisierungen, Fantasiegebilde oder spektakuläre Visualisierungen. Sie sind von direkter Energie und Kraft wie der Schuss, der sich vom Bogen wie von selbst löst und nicht den geringsten Raum für Zweifel oder intellektuelle Spitzfindigkeiten lässt.

„Weil (Daikan Enō) ein Mensch des Es ist, ist er erleuchtet.“

Dōgen schildert die berühmte Begegnung von Daikan Enō (Hui Neng) mit dessen eigenen Meister, die deshalb etwas ganz Besonderes ist, weil Daikan Enō nicht als angesehener Mönch im Kloster lernte und praktizierte. Dazu fehlten ihm die formalen Voraussetzungen, deshalb lebte er nur als einfacher Arbeiter im hinteren Teil des Klosters und hatte die Aufgabe, Reis für die Anderen zu stampfen und zu sieben.

Eines Tages kam sein Meister Daiman um Mitternacht heimlich, ohne dass es die anderen Mitglieder des Klosters bemerkten, in den Raum, wo Daikan Enō arbeitete, und fragte ihn, ob der Reis schon weiß sei oder nicht. Daikan Enō antwortete:

 „Er ist weiß, aber noch nicht gesiebt.“

Das war der große Augenblick des gemeinsamen ES! Erstaunlicherweise ergriff sein Meister Daiman daraufhin selbst den Reisstößel und stampfte einmal in den Mörser; Daikan Enō siebte dann den Reis mit dem geflochtenen Korb: Nicht zwei sondern einer.

Laut der Überlieferung war dies der Augenblick, als der Zustand der Wahrheit des Zen-Geistes zwischen dem Meister und dem Schüler zur Einheit kam. Es war ihnen selbst wohl nicht bewusst, und es übersteigt das Verstehen anderer. Aber die Übertragung des Dharma und die Übertragung der buddhistischen Robe fanden genau in diesem Augenblick der Wirklichkeit statt. Und damit nahm das "goldenen Zeitalter" des Zen-Buddhismus seinen Lauf.






[i] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 124, Fußnote 29