Sonntag, 31. Mai 2015

Funken beim Schüler und Zuhörer zu erzeugen.




Es wird berichtet, dass Meister Tozan das tiefe Erkennen der buddhistischen Lehre und Praxis erfuhr, klar, eindeutig und direkt. Seine überkommenen Vorstellungen und festgefahrenen Emotionen lösen sich auf, und er erlebt eine neue Vitalität und Lebendigkeit. Nishijima Roshi sagt, dass Meister Tozan

„den Zustand erlangt hat, der Leben und Tod vollständig übersteigt, und dass er den Zustand des gegenwärtigen Augenblicks vollständig erlangt hat.“

Dabei werden alle vorgefassten Vorstellungen und Konzepte über Leben und Tod, die „sich von der Wirklichkeit direkt vor uns unterscheiden“, fallen gelassen.

Nishijima und Cross erklären, dass für Dōgen „Natur“ und „Essenz“ dieselbe Bedeutung haben.[i] Im Folgenden werde ich sie deshalb ebenfalls als Synonyme verwenden. Die Bedeutung des Begriffs Natur ist allerdings im Buddhismus wesentlich umfassender, als wir es im Westen gewöhnt sind. Sehr häufig verstehen wir Geist und Natur als Gegensatz und meinen, dass nur ein Mensch Geist besitzt, also über geistige Fähigkeiten und Kompetenzen verfügt.

Dōgen hingegen beschreibt mit „Natur“ gleichzeitig das natürliche Gleichgewicht oder den natürlichen Zustand, der sich in der konkreten Wirklichkeit des Buddha-Dharma ereignet und auch als Erwachen oder Erleuchtung bezeichnet wird.[ii] Diesen Zustand grenzt man von den gekünstelten und übersteigerten Zuständen ab, die nicht zum Mittleren Weg gehören, sondern ins Unglück und Leiden führen; typisch dafür sind Illusionen, Täuschungen und Verdrängungen.

Dōgen hält fest, dass alle großen Meister und Buddhas durch die Tugend verwirklicht werden, den umfassenden Geist zu erklären und die Natur, also die Essenz, darzulegen. Es ist demnach eine ganz wesentliche Qualität und Funktion, die buddhistische Lehre und Praxis sowohl für sich selbst zu verwirklichen als auch an andere weiterzugeben. Andernfalls wäre es unmöglich, das strahlende Dharma-Rad weiterzudrehen. Das heißt, dass die Lehre wesentlicher Bestandteil des Handelns der großen Meister ist.

Aber es darf sich dabei nicht nur um geschickte oder intelligente Rhetorik handeln, die sich vom wahren Kern des Buddhismus entfernt hat und nur angelerntes Wissen übermittelt. Der Meister muss selbst den konkreten höchsten Zustand des Menschen erlangt haben, um über den wahren Geist lehren zu können. Dies ist umso bedeutender, weil der Geist nicht vollständig erfasst werden kann und daher auch der Mensch unfassbar ist, wenn er über das intellektuelle Denken und angelernte Wissen hinausgeht.

Den Geist zu lehren und die essentielle Wahrheit darzulegen, ist sowohl natürliches konkretes Handeln als auch mystische Tiefgründigkeit. Der lehrende Geist bedeutet, „Funken“ beim Schüler und Zuhörer zu erzeugen und Energien freizusetzen. Ich möchte hier an das berühmte Kōan-Gespräch zwischen den Meistern Seppō und Gensa erinnern, die sich einig waren, dass „Buddha in der Flamme ist“.[iii] Diese für westliche Leser ungewöhnliche Formulierung lässt aus meiner Sicht die Präzision und den Mut wahrer Dharma-Gespräche aufleuchten.

Nicht zuletzt durch praktisches Training wird der Geist erweckt, und dabei wird laut Dōgen

„die Wirklichkeit gleichzeitig mit der ganzen Erde und mit allen Lebewesen verwirklicht“.[iv]

Dies ist ohne die Buddha-Natur[v] nicht möglich.






[i] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 3, S. 52, Fußnote 5
[ii] vgl. mein Buch: Umwelt-ZEN. Im Auge des Zen, Bd. 3
[iii] Kap. 23, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 202 ff.: „Wahres und reines Handeln der Buddhas (Gyōbutsu yuigi)“ und mein Buch: Strahlende Zeit zum Handeln. Im Auge des Zen, Bd. 2
[iv] Kap. 3, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 43 ff.: „Das verwirklichte Leben und Universum (Genjō-kōan)
[v] Kap. 22, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 192 ff.: „Das Geheimnis der Buddha-Natur (Busshō)

Freitag, 22. Mai 2015

Geist und Essenz: Im Tod bin ich lebendig geworden


Dōgen legt großen Wert darauf, dass die Begriffe Geist und Essenz sehr konkret und real erfahren und begriffen werden müssen. Dies heißt im Umkehrschluss, dass ein Meister oder Lehrer, der selbst zur Wahrheit von Körper und Geist gelangt ist, diese beiden Begriffe mit voller gelebter Wirklichkeit erfüllt und an andere Menschen weitergeben kann. Ein Theoretiker und Gelehrter der Schriften kann also die wahre Bedeutung von Geist und Essenz der buddhistischen Lehre nicht erklären und vermitteln, weil er überhaupt keinen Zugang zur buddhistischen Wirklichkeit hat.

Hierin liegt auch die zentrale Bedeutung dieses Kapitels, denn wenn die buddhistische Lehre und Praxis nicht mit Worten beschrieben und für die Lernenden erklärt worden wäre, hätte sie überhaupt nicht von einer Generation zur anderen bis in die Gegenwart übermittelt werden können. Für diese Weitergabe ist Dōgens Shōbōgenzō, „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“, der beste Beweis. Eine Abwertung aller schriftlichen buddhistischen Lehre ist daher Unsinn.

Ich möchte daher seine Kernsätze zum Thema Geist im Folgenden zusammenfassen: Es gibt die Wirklichkeit des Geistes als Lehre und Praxis in der Einheit von Körper und Geist. Der Geist ist aber mit dem Verstand nicht vollständig zu erfassen. Er kann sich also weder allein auf der idealistischen, noch auf der materialistischen Ebene verwirklichen, sondern wird darüber hinausgehend im Handeln des Augenblicks und auf der höchsten Ebene der Wahrheit erfahren.

Ein solcher wahrer Geist existiert nicht außerhalb der Ethik, und er kann von echten Meistern und Lehrern direkt erklärt und dargelegt werden. In diesem Zusammenhang möchte ich auf das Kapitel „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“  im Shōbōgenzō verweisen.

Dōgen gibt dann ein Kōan-Gespräch zwischen Meister Tozan[i] und Meister Shinzan wieder. Die beiden Meister machten zusammen einen Spaziergang, dabei zeigte Tozan auf einen kleinen Tempel abseits des Weges und sagte:

„Dort drinnen ist jemand, der den Geist darlegt und die Natur (und Essenz des Buddhismus) erklärt.“

Tozan drückte damit aus, dass der Abt dieses Tempels die Einheit von Geist, Materie, Natur und Essenz der Wahrheit lehrte.
Der etwas ältere Shinzan fragte:

„Wer ist es?“

Dies scheint vordergründig betrachtet eine relativ belanglose Frage zu sein, mit der sich Shinzan nur nach dem Namen des Abtes erkundigen möchte.

Aber Tozan antwortete umfassend und tiefgründig:

„(Dadurch dass) eine Frage durch dich, älterer Bruder, gestellt wurde, habe ich direkt den Zustand erlangt, (in dem ich) vollständig gestorben bin.“

Was meint Tozan mit der Formulierung, dass er vollständig gestorben sei? Nishijima Roshi interpretiert das so, und ich folge ihm darin, dass theoretische Vorstellungen und emotionale, sinnliche Eindrücke verschwunden und damit gestorben sind, dass also Meister Tozan in der Situation vollständige Klarheit hat.
Meister Shinzan fügte hinzu:

„Jener konkrete Zustand, den Geist zu erklären und die Essenz (als Wahrheit) darzulegen, ist wer?“ Damit stellt er die Verbindung zu dem Meister in dem kleinem Tempel her, der in der Lage ist, die große Wahrheit zu lehren und zu erläutern.

Tozan fuhr daraufhin fort:

„Im Tod bin ich lebendig geworden.“

Dieses Kōan-Gespräch über die Frage, wie der Geist und das Wesentliche des Buddhismus behandelt und dargelegt werden, ist auch in Dōgens Kōan-Sammlung Shinji Shōbōgenzō[ii] enthalten. Die Formulierungen lauten dort jedoch zum Teil etwas anders, zum Beispiel sagt Meister Tozan, dass er in den Zustand eingetreten ist, der Leben und Tod vollständig übersteigt. Meister Shinzan ergänzt, dass ein Mensch, der Geist und Materie lehrt, selbst unfassbar ist, weil sein Geist nicht erfasst werden kann.

Nishijima Roshi legt bei seiner Interpretation dieses Kōan-Gesprächs den Schwerpunkt auf die Bedeutung des Wortes „wer“, das ganz einfach die Frage nach dem Namen eines Menschen beinhalten könnte. Aber diese Frageform bedeutet im Zen-Buddhismus darüber hinaus, dass der wahre Mensch unfassbar ist, nicht in starre Kategorien eingeordnet werden kann und in keine Schablone passt. Wer Körper und Geist lehrt, hat die Essenz des Buddhismus verwirklicht und kann sie anderen darlegen. Mit einfachen Worten kann man ihn nicht erschöpfend beschreiben.




[i] Meister Tozan lebte von 807 bis 869; er ist der 38. Meister in Dōgens Übertragungslinie.
[ii] Dōgens Kōan-Sammlung „Shinji Shobogenzo“, erläutert von G. W. Nishijima, deutsche und englische Fassung, Bd. 1, Nr. 62

Dienstag, 12. Mai 2015

Paradoxer Wortsalat ist kein Zen-Buddhismus



Zur Zeit Dōgens und auch heute noch gibt es buddhistische Gruppen, die jede Erläuterung zum Geist und zur Essenz der Buddha-Wahrheit grundsätzlich ablehnen.

Sie behaupten, dass solche Erklärungen nur auf den Bereich intellektueller Anstrengung beschränkt bleiben und deshalb für den wahren Zen bedeutungslos oder sogar schädlich wären. Worte und Beschreibungen, sogar die Sūtras, seie durch die intellektuelle Sphäre beschränkt, könnten also niemals zum Kern der buddhistischen Wahrheit vordringen und würden ein solches Streben sogar vereiteln.

 Die buddhistische Wahrheit sei ihrem Wesen nach immer anti-intellektuell und anti-theoretisch. Solche Behauptungen lassen vermuten, dass diese angeblichen Buddhisten den Intellekt und den umfassenden Zen-Geist miteinander verwechselt haben: prajna paramita, die höchste Weisheit, die über das Wissen hinausgeht.
Dōgen distanziert sich von solchen Auffassungen mit großem Nachdruck.

Im Kapitel „Das Sūtra der Berge und Wasser[i] findet er scharfe Worte gegen angebliche Buddhisten, die der Ansicht sind, Zen sei niemals rational und vernünftig, sonst sei es gerade kein wirklicher Zen-Buddhismus. Außerdem schätzt er die verlässlichen Schriften des Buddhismus außerordentlich. Wie sollten wir ohne sie überhaupt Buddhismus studieren. Die Sutras bezeichnet Dōgen als die wahren Reliquien Buddhas, nicht seine Knochen und Zähne (wenn sie denn überhaupt echt sind).

Ich kenne selbst einige Zen-Buddhisten im Westen, die sich fast genüsslich in Paradoxien und Widersprüchen ergehen und erklären, dies sei der wahre Zen. Auch manche „Lehrer“ möchten auf diese Weise gläubige Schüler beeindrucken und sich den Nimbus eines großen Zen-Meisters verleihen. Sie erwecken den Eindruck, dass sie die Paradoxien selbst „durchschauen“, weil sie erleuchtet sind und den Dualismus überwunden haben, die anderen aber nicht.

Im Shōbōgenzō betont Dōgen immer wieder eindeutig, dass ein nur intellektuelles Verstehen der buddhistischen Lehre und Praxis allerdings unzureichend ist. Er behauptet aber niemals, dass der Buddhismus irrational und paradox sei, sondern sagt im Gegenteil, dass die menschliche Vernunft und die Kraft der Worte ausgeschöpft werden müssen, um die buddhistische Lehre so weit wie möglich zu „verstehen“.

Sein gesamtes schriftliches Werk, vor allem das Shōbōgenzō, zeugt von seiner geistigen ja dichterischen Kraft und Scharfsinnigkeit, die heute der Zen-Lehre gerade im Westen eine große Anziehungskraft verleihen. Dem nur intellektuellen Verstand nicht zugängliche Wahrheiten haben nämlich oft tiefgründige Inhalte und poetische Kraft, sie verstoßen aber nicht gegen eine erweiterte intuitive Vernunft, die typisch für spirituelle und psychische Sphären ist. Und sie machen Sinn!

Wenn sich buddhistische Aussagen dagegen nur in Paradoxien ergehen, können sie die Essenz dieser Lehre nicht mehr an die Menschen übermitteln.

Paradoxer Wortsalat ist keine buddhistische Lehre.






[i] Kap. 14, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 129 ff.: „Das Sūtra der wirklichen Berge und Wasser (Sansui gyō)

Dienstag, 5. Mai 2015

Neues Buch: Das Herz des Zen-Buddhismus



Das Herz des Zen-Buddhismus
Themen: Leben, Wirklichkeit, Geist, Materie, Handeln, Zen-Meditation und
Dōgens Kapitel zum Herz-Sūtra aus dem Shōbōgenzō:
Autoren: G. W. Nishijima und Yudo J. Seggelke

Eine klare kompakte Beschreibung des Zen-Buddhismus: gut verständlich, modern, direkt.
Keine verwirrenden Widersprüche und Irrationalitäten.

Dieses Buch ist von hohem Wert: Es enthält das wesentliche Denken und die tiefe spirituelle Erfahrung von Nishijima Roshi, einem des größten buddhistischen Meister des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist auch sein großes Vermächtnis für die Gegenwart und Zukunft des Buddhismus.

Dazu passt die Beschreibung des Herz-Sutra nach Meister Dogen, das als der Kern des Mahayana-Buddhismus gilt, also einer Zusammenfassung vieler umfangreicher Schriften aus dieser großen kreativen buddhistischen Epoche.


Dieses Buch gibt es als Hardcover-Druck und als E-Book (sehr preiswert).
Zum Beispiel im Internet bestellen:


Sonntag, 3. Mai 2015

Die Tsunami-Katastrophe: materiell und ideologisch


Der große Meister Zengen Chukos sagt, dass die Welt zertrümmert sei: man kann  und sollte das meines Erachtens mehrschichtig interpretieren und nicht bei einer platten Negativität stehen bleiben. Es ist denkbar, dass damit die tatsächlichen Probleme dieser realen Welt gemeint sind, also die Katastrophen und Zusammenbrüche, die es immer wieder gibt. Ich möchte in diesem Zusammenhang beispielhaft an die nukleare Katastrophe von Fukushima erinnern, die durch ein starkes Erdbeben und eine hohe Tsunami-Welle ausgelöst wurde.

Die Natur hat hier ihre vom Menschen nicht beherrschbare Gewalt geäußert, aber die eigentliche Ursache für das Unglück ist in der fehlerhaften Planung des Atomkraftwerkes zu suchen. Die angenommenen Grenzwerte waren zu niedrig angesetzt, und die Besiedlung des Küstenstreifens ist wegen der dauernden Gefahr von Tsunamis unverantwortlich, um nicht zu sagen menschenverachtend. Eine vorausschauende Regionalplanung hätte die Bebauung in diesem Gebiet vermeiden müssen.

Im Folgenden einige weiteren Interpretationen: Die Vorstellungen, Ideologien, Täuschungen und Verdrängungen der Menschen sind die Ursachen ideologischer Tsunamis. Sie müssen zerschmettert werden: Wenn wir das Gleichgewicht und die Erleuchtung erlangt haben, gibt es sie nicht mehr! Leider müssen wir auch in der heutigen Zeit immer wieder erleben, dass politische und wirtschaftliche Ideologien und ungezügelte Gier zu schwerwiegenden Katastrophen führen, die viele Menschen in große Not und Verzweiflung stürzen.

Derartige Akteure müssen erkennen, dass sie sich von der Wirklichkeit und dem wahren Ethos, also der Humanität, entfernt haben und neu ansetzen müssen.

Eine solche Interpretation ergibt auch einen Sinn in der Debatte, wie es möglich sei, ohne den eigenen Körper zu sein: Überspitzt ausgedrückt kann man sagen, dass die Ideologie eines losgelösten Geistes beim Menschen und in der Welt zu Zusammenbrüchen führen muss, denn der Geist ist immer eine unauflösbare Einheit mit dem Körper. Dieser Körper-und-Geist ist der Geist der ewigen Buddhas, das ist die Wirklichkeit.

Dōgen betont in aller Klarheit, dass der Geist der ewigen Buddhas, also die von Natur aus gegebene Wahrheit und Wirklichkeit, schon immer existiert hat und sich im gegenwärtigen Augenblick verwirklicht:

„Vor allen Buddhas blüht der Geist der ewigen Buddhas, und nach all den Buddhas trägt der Geist der ewigen Buddhas Frucht. Vom ‚Geist der ewigen Buddhas‘ (als Begriff und erstarrte Vorstellung) ist der Geist der ewigen Buddhas befreit.“

Diese Äußerungen sind nur verständlich, wenn wir uns daran erinnern, dass der Buddha-Geist von den Vorstellungen, Begriffen und Lehrinhalten grundsätzlich unterschieden werden muss und als direkte Wirklichkeit in seiner Klarheit und Natürlichkeit verwirklicht wird. Das ist die Befreiung von verengenden Ideen und oberflächlichem Materialismus.