Freitag, 30. September 2016

Die Buddha-Natur ist viel mehr als der Same einer Pflanze


Dôgen distanziert sich von denjenigen, die sich die Buddha-Natur als eine kleine Einheit vorstellen, zum Beispiel wie ein Samenkorn. Und er zitiert, was sie fälschlicherweise behaupten:
„Die Buddha-Natur ist wie der Samen einer Pflanze oder eines Baumes. Wenn der Regen ihn wieder und wieder bewässert, beginnen die Knospen und Triebe zu wachsen. Dann sind zahlreiche Äste, Blätter, Blumen und Früchte da, und die Früchte geben erneut die Samen.“

Dôgen bezeichnet solche Vorstellungen als „sentimentales Denken“ der gewöhnlichen Menschen, die eine naive, unreflektierte Meinung über die Buddha-Natur haben.

Ich folge ihm darin, dass jede dinghafte Vorstellung von der Buddha-Natur unsinnig ist. Zwar ist das Bild eines Samens, der eine Pflanze, Blüten und Früchte hervorbringt, eigentlich ein schönes Gleichnis, aber es geht vollkommen am Wesentlichen der Buddha-Natur vorbei. Warum? Wenn wir uns zunächst auf den Menschen fokussieren, ist die Buddha-Natur seine eigentliche ganzheitliche Natur, nicht zuletzt im Verhältnis zu anderen Menschen, zur Umwelt und zum Universum. Sie ist also seine Wahrheits-Natur, sein wirkliches Wesen, aber niemals eine abgegrenzte Entität.

Sie verwirklicht sich ganzheitlich im Augenblick und ist niemals statisch. Die Buddha-Natur ist nichts mehr und nichts weniger als die wahre, erwachte lebende Natur des Menschen. Die zentrale Frage ist dabei, wie sich die Buddha-Natur verwirklicht. Im Laufe dieses Kapitels beschreibt Dôgen in diesem Sinne aus verschiedenen Perspektiven diese Buddha-Natur und grenzt deren Verständnis und Erfahrung gleichzeitig eindeutig von falschen Lehren ab.

Als Nächstes argumentiert Dôgen im Sinne der Sein-Zeit, also der Augenblicklichkeit aller wirklichen Dharmas – der Dinge und Phänomene dieser Welt –, dass die Samen, Blüten und Früchte im Augenblick jeweils genau für sich real bestehen. Der Prozess ihres Wachsens und ihrer Entwicklung ist ein gedachter oder erhoffter zeitlicher Zusammenhang, der durch den denkenden Verstand hinzugesetzt wird. Er ist die eine Seite unserer materiellen Welt. In der genauen Wirklichkeit des erwachten Geistes des Augenblicks gibt es einen solchen Prozess und einfachen Zusammenhang jedoch nicht , deshalb sei dieses Gleichnis für den erwachten Zustand des Augenblicks grundsätzlich unbrauchbar:

„In den Früchten gibt es Samen. Die Samen ergeben jeweils eigenständig die Zweige, Blätter und Blüten, die für sich stehen und jeweils im Augenblick Wirklichkeit sind. Sie sind jeweils Tatsachen in einer vielfältigen realen Welt.“

Damit erweitert Dôgen die Sicht auf die Samen, Pflanzen, Blüten und Früchte selbst, indem er betont, dass sie jeweils die wahre Wirklichkeit des Augenblicks und damit Buddha-Natur sind. Weiterhin ist wichtig, dass Pflanzen durch ihre Gen-Struktur weitgehend festegelegt und determiniert sind. Dagegen haben wir Menschen ein fast unbegrenztes Potential der Entwicklung und Emanzipation und sind nur in gewissem genetisch Umfang festgelegt. Buddha beschreibt einen solchen Weg der Entwicklung und Emanzipation in eindringlicher Weise im Achtfachen Pfad.

In mehreren tiefgründigen Kapiteln des Shôbôgenzô arbeitet Dôgen heraus, dass die belebte und unbelebte Natur in der Wechselwirkung und Gesamtheit mit uns Menschen von zentraler Bedeutung für unser Leben sind.[i] Er versteht auch und sogar die nicht-empfindenden Wesen, wie zum Beispiel Blumen und Bäume, als Gleichnis für die Erleuchtung selbst, da sie nicht durch Emotionen, Affekte und Gedanken aus dem Gleichgewicht gebracht werden und nichts übertrieben und nichts weglassen wird.



[i] vgl. Seggelke, Yudo J.: Umwelt-ZEN. Im Auge des Zen, Bd. 3