Freitag, 6. Juli 2007

Einführung zur Dogen Sangha Berlin von Gudo Nishijima Roshi


Mit Yudo J. Seggelke habe ich vereinbart, dass er im Blog der Dogen-Sangha Berlin wesentliche Bereiche der buddhistischen Lehre und Praxis beschreibt und kommentiert und sich dabei vor allem auf das große Werk: "Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" (Shobogenzo) von Meister Dogen (Kristkeitz Verlag) stützt. Dieses Werk habe ich mehr als sechzig Jahre lang eingehend studiert und bin der festen Überzeugung, dass dieses Quellenwerk auch für den Westen von unschätzbarem Wert ist. Wir wollen somit den zunächst schwierigen Inhalt des Shobogenzo über das Internet an Interessierte im deutschsprachigen Raum herantragen und verständlicher machen. Dies ergänzt aus meiner Sicht in ausgezeichneter Weise die von mir selbst verfassten Texte des Buddha-Dharma, die ebenfalls im Blog des Internet zugreifbar sind (http://gudoblog-d.blogspot.com/) und außerdem die Texte des Shobogenzo und anderer Werke von Meister Dogen selbst.
Manche meinen, dass der Buddhismus eine Religion ist, die nur für Menschen geeignet ist, die sich aus dem beruflichen und gesellschaftlichen Leben zurückziehen oder glauben sogar, dass der Buddhismus lebensfeindlich oder gar nihilistisch sei. Vor allem der Zen-Buddhismus sei von Askese und dem schmerzhaften Ringen um Erleuchtung geprägt. Dies ist aus meiner Erfahrung und Kenntnis völlig falsch und das Gegenteil ist richtig. Wer sich aus der Wirklichkeit verabschiedet, gerät unweigerlich in einen ausweglosen Kreislauf von Leiden, Trugbildern, Ängsten und subjektiven Welten und kann nur daraus erlöst werden, wenn er zur Wirklichkeit und damit zur Wahrheit zurückfindet. Das Genie Gautama Buddha hat dies erfahren und erkannt und uns die großartige Lehre des Buddha-Dharma gegeben. Der Buddhismus behauptet auch nicht, dass das ganze Leben aus Leiden besteht, sondern im Gegenteil, er will uns praktisch gangbare Wege weisen, wie wir das Leiden überwinden, eindimensionale Weltanschauungen über Bord werfen, Ideologien und Verführungen schnell durchschauen und zu Gleichgewicht und Harmonie zurückfinden. Mit Meister Dogen bin ich der festen Überzeugung, dass die Praxis des Zazen in Verbindung mit der buddhistischen Lehre genau der richtige Weg ist, den wir dabei beschreiten sollten. Meine Lehre stützt sich neben Gautama Buddha selbst auf die genialen Meister Nagarjuna, Bodhidharma und, wie schon erwähnt, auf Meister Dogen. Ich habe bei meinen vielen Vorträgen und Gesprächen in Asien, Europa und Amerika festgestellt, dass sich die Eckpunkte von Theorie und Praxis des wahren Buddhismus immer klarer herauskristallisieren und besser verstanden werden.
Welches sind nun die maßgeblichen Eckpunkte des Buddha-Dharma?
Lassen Sie mich dabei zunächst kurz auf das Leben und die Erfahrungen von Meister Dogen eingehen. Er wurde 1200 nach Christus geboren und hatte schon in frühen Jahren ein schweres Schicksal, weil sowohl sein Vater als auch seine Mutter früh gestorben waren, und er die Begrenztheit des Lebens bitter erfahren musste. Dies mag der Grund dafür sein, dass er schon in jungen Jahren den Sinn und die Wahrheit unserer Existenz suchte, in ein buddhistisches Kloster eintrat und nicht zuletzt wegen seiner überragenden Intelligenz schon bald die verschiedenen buddhistischen Lehren im damaligen Japan aufgearbeitet hatte. Der junge Dogen war nicht nur ungewöhnlich begabt, sondern auch von großer Ehrlichkeit sich selbst gegenüber, so dass er trotz besten Willens den damaligen in Japan gelehrten Buddhismus wenig überzeugend fand und nach China ging. Auch dort erlebte er zunächst Enttäuschungen, bis er schließlich seinen eigenen Meister Tendo Nyojo traf, der neben der Lehre des Buddhismus vor allem die Praxis des Zazen in den Mittelpunkt des buddhistischen Weges stellte. Zazen ist keine geistige Meditation mit der Konzentration auf ein Thema oder auf ein Bild, auf den Atem, auf das Zählen oder auf die paradoxen Fragen der Koans. Zazen ist genau das Gegenteil, nämlich praktisches Handeln in Form des Sitzens in der richtigen Haltung, so dass sich beim Menschen ein Gleichgewicht einstellt und dabei Gedanken, Gefühle und die normale Wahrnehmung verschwinden. Nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen handelt es sich dabei um das Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems, wenn die Aktivität und Spannung des einen Teilsystems Sympathikus und die Passivität und Wahrnehmung des anderen Parasympathikus im Gleichgewicht sind. Das japanische Wort Shobogenzo bedeutet "Der wesentlichen Kern oder die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" und dieser kostbare Schatz ist aus der Sicht von Meister Dogen die Praxis des Zazen, die er in seinen Werken immer wieder beschreibt und wie wir wissen, an seine Schüler weiter gegeben hat.
Was sind nun die Kennzeichen der Zazenpraxis?
Dogen führt vier wesentliche Bereiche auf:

1) Überschreiten des üblichen unterscheidenden Denkens mit dem Verstand in Form des "Nicht-Denkens".

2) Das regelmäßige Sitzen im Zazen in der richtigen Körperhaltung, die von Dogen sehr genau beschrieben wird. Dieses Sitzen ist praktisches Tun, umfasst damit den ganzen Menschen und beschreibt sozusagen die körperliche Dimension als Grundlage des Handelns.

3) Dogen beschreibt das wirkliche Handeln und Erleben bei der Zazenpraxis mit den Worten: "Das Fallenlassen von Körper und Geist" und meint damit, dass wir uns von den einengenden Fesseln des Körpers und des Geistes, die uns in unserem Leben so häufig quälen, befreien. Ich interpretiere diese von Dogen formulierte Tatsache als das Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems, das durch die Zazen-Praxis erreicht wird.

4) Die Praxis des Zazen wird durch das japanische Wort „Shikantaza“ beschrieben, das etwa übersetzt heißt: "Nichts anderes tun als sitzen". Damit will Dogen vor allen Dingen klar machen, dass wir bei der Zazen-Praxis keine Konzentration auf ein Thema oder Ziel aufbringen sollen, sondern dass das Sitzen selbst die wesentliche Übungspraxis ist. Dadurch werden das Gleichgewicht und die Harmonie ermöglicht, von der wir heute wissen, dass sie die Balance des vegetativen Nervensystems sind. Dieses Zazen bezeichne ich als die erste Erleuchtung. Diese kann aber nicht auftreten , wenn intellektuelle oder sonstige Gedanken im Geist vorhanden sind, wenn Gefühle vorherrschen oder die Wahrnehmung dominiert. Daher ist es so wichtig, nicht irgendein bestimmtes Ergebnis erzielen zu wollen, sich nicht auf irgendetwas zu konzentrieren, sondern es kommt darauf an, die richtige körperliche Haltung und das Sitzen als Handeln zu verwirklichen. Nur dann kann die erste Erleuchtung bei der Zazen-Praxis auftreten.
Gautama Buddha hatte im alten Indien zunächst mit den damaligen Meditationsformen der geistigen Konzentration und mit Übungen der Askese versucht, Befreiung und Erwachen zu erlangen und war bekanntlich dabei gescheitert. Die auch damals im alten Indien vorhandenen Philosophien des eindimensionalen Idealismus, bei dem Gedanken, Ideen, Vorstellungen und Ideale vorherrschend sind, aber auch der eindimensionale Materialismus, der allein der sinnlichen Wahrnehmung und Beobachtung Wirklichkeitswert zuschreibt, hatten sich als Sackgassen erwiesen. Auch ein Skeptizismus und Nihilismus, den es schon damals gab, führten nicht weiter. Gautama Buddha erkannte dann:

"Die ganze Erde und alle Lebewesen verwirklichen zusammen die Wahrheit",

wie Meister Dogen dies ausdrückt. Er erkannte, dass er über das Denken und die Wahrnehmung hinausgehen musste, um die Wahrheit und Wirklichkeit der Welt direkt zu erfahren und zu erleben. Dazu benutzte er die Praxis des Zazen, die auf der seit langem bekannten Yoga-Haltung des halben oder ganzen Lotussitzes aufbaut. Dann erkennen und erfahren wir unmittelbar die Einheit und Schönheit der Welt. Durch das Handeln des Sitzens im Augenblick und im Hier und Jetzt verlassen wir das oft quälende dualistische Bewusstsein von Körper und Geist und erfahren unser Leben im Einklang und in der Einheit mit dem Universum ganzheitlich und unmittelbar intuitiv. In der wirklichen Erfahrung des Zazen können wir den Buddha-Dharma vollkommen verwirklichen, wenn wir, wie ich immer wieder betone, zweimal täglich diese Übungspraxis vollziehen.
Um das Shobogenzo von Meister Dogen zu verstehen und sich nicht an scheinbaren Widersprüchen und Paradoxien aufzureiben, gibt es einen Zugang und Schlüssel, der den unschätzbaren Wert dieses Werkes aufschließt. Es handelt sich dabei um die neue und wie ich glaube, großartigen Lehre der sog. vier Lebensphilosophien, die Meister Dogen in dem Kapitel „Das verwirklichte Universum“ (Genjo koan) beschreibt. Die volle Wirklichkeit des Lebens und der Welt sind weder durch den Verstand noch durch die Wahrnehmung ganz zu erfassen, sondern es handelt sich dabei immer nur um Teilwahrheiten, die durch ihre Einseitigkeit als umfassende Lebensphilosophie völlig ungeeignet sind und daher zwangsläufig ins Leiden führen müssen. Die beiden ersten Lebensphilosophien sind die im Westen vorherrschenden Lehren und entsprechenden Lebensführungen des sog. Idealismus und Materialismus. Wie Gautama Buddha und Meister Dogen jedoch in aller Deutlichkeit erklären, muss als dritte Lebensphilosophie der Bereich des Handelns und Erfahrens im gegenwärtigen Augenblick, also im Hier und Jetzt, hinzukommen. Dann können wir die enge Perspektive des Subjekts überschreiten und uns befreien. Bei der Zazenpraxis und im Alltag eröffnet sich durch das direkte Handeln im Hier und Jetzt eine neue Wahrheit, die zum Kern der buddhistischen Lehre gehört. Die vierte umfassende Lebensphilosophie des Buddhismus enthält die drei ersten genannten Teilbereiche und geht gleichzeitig über sie hinaus, sie bildet also den „Schlussstein“ des großartigen buddhistischen Lehrgebäudes.
Meister Dogen drückt dies wie folgt aus:

"Selbst wenn dies alles so ist, fallen die Blüten, obwohl wir es bedauern und wächst das Unkraut, obwohl es uns nicht gefällt".

Damit will er sagen, dass wir über unsere kleinen Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Erwartungen hinausgehen müssen, diese als solche erkennen und ihnen die einengende Kraft nehmen, um zur Wahrheit des Buddha-Dharma und des Lebens zu gelangen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir mit den vier Lebensphilosophien den Schlüssel für die Lehren Gautama Buddhas und Meister Dogens in der Hand haben.
Das Gesetz von Ursache und Wirkung hat im Buddhismus einen zentralen Stellenwert und auch Meister Dogen bekennt sich dazu. In dem Kapitel: "Tiefes Vertrauen in Ursache und Wirkung" des Shobogenzo kommt dies in aller Klarheit zum Ausdruck. Wie erläutert, wird der Lebensphilosophie der Formen und des Materiellen im Buddha-Dharma als Teilwirklichkeit anerkannt. Auch Meister Dogen beschreibt in verschiedenen Kapiteln die physische Welt und, wie wir heute sagen würden, die Gesetze der Naturwissenschaft. Der große Wissenszuwachs der modernen Zeit ist ja nicht zuletzt in diesem Bereich entstanden und steht überhaupt nicht im Gegensatz zur buddhistischen Lehre. Besonders deutlich wird dies in den Kapiteln des Shobogenzo: „Das verwirklichte Universum“, „Eine leuchtende Perle“ und „Die Stimme des Tales und die Form der Berge“. Das Gesetz von Ursache und Wirkung gilt im Buddha-Dharma jedoch auch und nicht zuletzt für die Ethik und Moral des menschlichen Lebens und besagt, dass moralisch schlechte Taten auf den Urheber zurückschlagen und zwar unabhängig von dem Glauben an die Wiedergeburt und noch in diesem Leben. Genauso gilt das Umgekehrte für moralisch gutes Handeln.
Das Gesetz von Ursache und Wirkung betrachtet die Zusammenhänge im Zeitablauf oder wie wir auch sagen, mit dem Verständnis der linearen Zeit. Wesentliche Erfahrungen und das wahre Erleben im Hier und Jetzt finden jedoch im Augenblick statt und haben im Buddha-Dharma eine sehr große Bedeutung, weil im gegenwärtigen Augenblick die Wirklichkeit, die wahre Existenz und die Wahrheit selbst erlebt und erfahren werden. Auch das Handeln findet im gegenwärtigen Augenblick statt, so dass die Augenblicklichkeit des Lebens und des Universums in der Lehre und in der Praxis im Mittelpunkt des Buddhismus stehen. Das Handeln im Augenblick bei der Zazen-Praxis ist mit der ersten Erleuchtung identisch und bedeutet den Bodhi-Geist des Menschen zu erwecken. Dogen sagt hierzu:

"Wer an des Tathagatas Schatzkammer des wahren Dharma-Auges und den wunderbaren Geist des Nirwana glaubt, glaubt auch an den Grundsatz der Augenblicklichkeit des Erscheinens und Vergehens aller Dinge.“

Die intuitive Weisheit und Klarsicht übersteigt bei weitem das übliche verstandesmäßige Denken und intellektuelle Ideen, seien sie auch noch so anspruchsvoll und komplex. Diese intuitive Weisheit und die volle Gegenwart und Freiheit des Handelns werden im Buddhismus gelehrt und praktiziert. Dann können wir sagen, dass es uns wie Schuppen von den Augen fällt und wir im Einklang mit der Welt und dem Universum die Zusammenhänge und uns selbst erkennen. Wir können dann ohne Zögern und Hemmnisse unmittelbar richtig handeln, wie es die Situation erfordert.
Wie ich an anderer Stelle schon ausgeführt habe, ist auch die westliche europäische Philosophie an den Endpunkt des alten Idealismus und Materialismus gekommen und sucht neue Wege, die aus meiner Sicht von den großen Meistern im Buddhismus bereits gegangen worden sind. Das Handeln im gegenwärtigen Augenblick ist Wahrheit und Wirklichkeit zugleich, es vollzieht sich hier und jetzt und ergibt die Einheit von Subjekt und Objekt sowie Körper und Geist im gegenwärtigen Augenblick. Dadurch werden wir frei und haben ein erfülltes und freudiges Leben.
Es ist sicher unbestritten, dass Ethik und Moral im Buddhismus von fundamentaler Bedeutung sind und dass vor allem die Übereinstimmung von Reden, Denken und Handeln gelehrt und erlernt wird. Hierbei ist die tägliche Praxis des Zazen genauso wie das alltägliche Handeln ein Kernbereich des Buddha-Dharma. Zazen ist dabei die reinste Form des Handelns und indem wir im halben oder ganzen Lotussitz physisch die Wirbelsäule aufrecht halten, kommt das vegetative Nervensystem automatisch ins Gleichgewicht. Dieses geistige und körperliche Gleichgewicht gibt uns Kraft und Ruhe, macht uns handlungsfähig und gesund.
Es übersteigt das verstandesmäßige Denken und irritierende Gefühle und ermöglicht intuitive Klarheit und Weisheit. Aber Buddhismus ist nicht allein Theorie, sondern die Verbindung von Lehre und Praxis und sie umfasst das ganze menschliche Leben und Universum.