Dienstag, 14. August 2007

Wahres und reines buddhistisches Handeln (Gyôbutsu yuigi)


Der Buddhismus ist eine Lehre der Praxis und des wirklichen Lebens, bei der das Handeln und Erfahren besonders wichtig sind. Während in der abendländischen Philosophie dem Denken der höchste Stellenwert eingeräumt wird, wird im Buddhismus seit dem großen Genie Gautama Buddha das Handeln als wesentlicher Bestandteil des Lebens anerkannt, und dies entscheidet nicht zuletzt über unser Glück und Unglück. Das Übergewicht und die hohe Wertschätzung des Denkens im Westen haben neben kräftigen Impulsen für unsere Kultur aber auch große Probleme und Katastrophen herbeigeführt. Insbesondere der Idealismus, der dem Denken und den Ideen alleinige Wirklichkeit zuschreibt, verzerrt sich oft zu Ideologien, und dies ist zunächst kaum zu erkennen, aber dann nicht mehr aufzuhalten. Es führte oft zu katastrophalen Kriegen, wie etwa dem Dreißigjährigen Krieg und dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ideologen verlieren dann vollständig ihre Menschlichkeit, wie wir in Deutschland durch den Faschismus bitter erfahren mussten.
Auch der Materialismus hat seine Ursache in einer Theorie, also im Denken und nicht in der Wirklichkeit. Er besagt, dass allein die materiellen Gegebenheiten wirkliche Realität besitzen und dass man die sinnlichen Wahrnehmungen genießen solle, weil es gar nichts anderes in der Wirklichkeit gibt. Materialisten argumentieren, dass der Idealismus und spirituelle Bereiche nur unsinnige Fantasiegebilde seien, die nicht wahr und wirklich sind. Wir alle kennen jedoch die Probleme des Materialismus: Verödung des Lebens, die Gier nach Profit, materiellem Vorteil, Genuss und Konsum und die Sinn-Entleerung im geistigen Leben. Wie Meister Nishijima in großer Klarheit herausgearbeitet hat, sind diese beiden Wege des Idealismus und Materialismus einseitige und sehr begrenzte Lebensphilosophien, die wesentliche Bereiche des umfassenden Lebens ausklammern bzw. ins Unbewusste abschieben, so dass ein ausgeglichenes und glückliches Leben unmöglich wird. Beide Lebenssichten sind also nur Komponenten oder Teilwahrheiten, die für sich allein oder auch in Kombination miteinander kein erfülltes und zufriedenes Leben ermöglichen. Dazu muss nach buddhistischer Lehre der Bereich des Handelns auf dem mittleren Weg hinzukommen, das gerade im Zen-Buddhismus eine so große Bedeutung hat und über das Denken und Reden hinausgeht. Wahres Handeln eröffnet den Zugang zur Wirklichkeit und Wahrheit und ereignet sich im Hier und Jetzt der Gegenwart und der Sein-Zeit. Während der berühmte Ausspruch des französischen Philosophen Decartes lautet: „Ich denke, also bin ich“ sagt Meister Nishijima:
Ich handele, also bin ich“,

denn das Denken kann unmöglich das wahre Leben sein, und wir alle wissen, wie häufig sich Gedanken und die Wirklichkeit unterscheiden.
Im Shôbôgenzô von Meister Dôgen gibt es das wichtige Kapitel: "Das reine würdevolle Handeln der Buddhas" (Kap. 23, Gyôbutsu yuigi). Dabei soll die Bedeutung des Begriffs "würdevoll" weit gehend mit "wahr" gleichgesetzt werden. Auf keinen Fall ist damit gekünsteltes und starr an Formen und Vorschriften gebundenes zeremonielles Handeln gemeint, denn es geht immer um das Handeln im Alltag des Hier und Jetzt. Dieses Handeln vollzieht sich in der Mitte des Gleichgewichts und ist damit als Tun und Handeln der Buddhas zu verstehen. Die Praxis des Zazen oder die erste Erleuchtung, die über Denken und Fühlen hinausgeht, ist ein wesentlicher Bereich solchen Handelns und darf keinesfalls als statisch verstanden werden. In der Praxis des Zazen befreien wir uns von einengenden und störenden Gedanken, von Zwängen, Ängsten und vor allem von Gier nach Ruhm und Profit. In diesem Handeln wird der Geist und das Bewusstsein von egoistischen Zwängen und von Gier befreit, die das Handeln einseitig aus dem Gleichgewicht bringt und ins Unglück führen muss. Das reine wahre Handeln der Buddhas und Menschen ist frei von Berechnung und Tricks. Durch das Handeln selbst eröffnet sich der Zugang zur wunderbaren Wirklichkeit und Wahrheit, und die schenkt den Menschen heitere Gelassenheit, aber auch schnelle und ausdauernde Tatkraft. Wie bekannt, entscheidet sich auch Wolfgang von Goethe am Beginn des „Faust“ für die Aussage:

"Am Anfang war die Tat"

und verwirft den Satz: "Am Anfang war das Wort".
Dôgen geht in diesem Kapitel zunächst auf den fundamentalen Unterschied zwischen abstrakten Begriffen und der Vorstellungen wie „Buddha“ und „Erleuchtung“ und dem wirklich handelnden Buddha selbst ein. Er grenzt auch das wahre Handeln von Begriffen wie „allmähliche Erleuchtung“ oder „plötzliche Erleuchtung“ ab und erteilt der Vorstellung, dass man in der Absicht handelt, die Erleuchtung zu erlangen, eine Abfuhr. Er arbeitet sogar heraus, dass Begriffe wie „Buddha“ und „Dharma“ meist sogar nur Fesseln sind, die es unmöglich machen, das reine und wahre Handeln zu verwirklichen. Denkgebilde, Fantasien, durch Begriffe und ehrgeizige Ziele eingeengtes Bewusstsein sind danach wesentliche Hindernisse auf dem Weg des wahren Handelns der Menschen und der Buddhas. Auch Begriffe und Vorstellungen wie „Buddha-Natur“ und „Dharma-Natur“ führen meist in die Sackgasse, denn Denken und Vorstellungen sowie Bilder und Fantasien können zwar mitlaufende Sichtweisen des Buddhismus sein, aber sie sind nicht in der Lage, die ganze Wirklichkeit im unmittelbaren Erleben und Handeln zu eröffnen.
Dôgen zitiert dann eine berühmte Stelle aus dem Lotus-Sutra, in der Buddha sagt: "Die Lebensspanne, die ich durch meine ursprüngliche Praxis des Bodhisattva-Weges verwirklicht habe, ist auch jetzt noch nicht beendet ". Er will damit sagen, dass sein Handeln als Bodhisattva und Buddha weiter geht, dass es nichts Bestimmtes zu erreichen gibt und dass das Handeln selbst das Wesentliche ist. Dôgen spricht in diesem Zusammenhang von einer "Zehntausend Meilen langen Eisenschiene" und meint damit, dass es sich nicht um eine begrenzte Zeitspanne handelt, sondern um ein Ganzes, um das Handeln in der Gegenwart, das zeitlich unbegrenzt ist und kein berechnendes Ziel kennt.
Ganz wesentlich bei dem buddhistischen Handeln ist eine moralische Reinheit, die keinen Vorteil wie Ruhm oder Profit für sich selbst will, sondern das tut, was im Augenblick in der bestimmten Situation getan werden muss und zwar nach dem Bodhisattva-Ideal des Buddhismus anderen zu helfen. Dies wird besonders durch das Zitat des großen Meisters Daikan Enô deutlich: "Gerade diese Reinheit ist es, welche die Buddhas immer bewahrt und beherzigt haben". Er fährt dann in dem Gespräch mit dem Meister Nangaku fort: "Du bist so, ich bin so und die alten Meister in Indien waren ebenso". Eine solche Reinheit des Handelns unterscheidet nicht, ob ich selbst etwas tue oder du handelst, denn ich und du bilden im reinen wahren Handeln eine Einheit. Es geht also um Praxis und Erfahrung und nicht um irgendwelche Begriffe wie „Essenz“, „Form“ oder „Prinzip“ und man kann nicht unterscheiden, ob ein Ich als Subjekt handelt oder ob mit mir als Objekt gehandelt wird. Wir sehen also, dass im Tun, Handeln, Erfahren und Praktizieren als existenzielle Wahrheit eine dualistische Unterscheidung von Subjekt und Objekt nicht mehr sinnvoll ist. Bei einer solchen Trennung, die allerdings leider in unserer Sprache tief verankert ist, wird das Wesentliche verschleiert und verdeckt und die Wirklichkeit und Wahrheit kommen dann nicht mehr zum Zuge. Das Handeln soll nicht mit Gedanken und Vorstellungen überfrachtet und damit unnötig verzerrt werden, sondern „es handelt ganz natürlich“ so, wie es ist. Wenn das Handeln also verengt und verkürzt wird, verliert es seine Natürlichkeit, Kraft und Reinheit, so dass ein solches verzerrtes Handeln die Wirklichkeit und Wahrheit verdeckt oder ausklammert. Ein solches wahres Handeln kann mit dem Denken nicht ausgeschöpft und nicht erfasst werden, es kann also theoretisch und philosophisch nur begrenzt gedacht und beschrieben werden. Im reinen wahren Handeln ist der Körper entspannt und sozusagen durchlässig und trotzdem kraftvoll und voller Energie.
Wir müssen uns von quälenden Vorstellungen und Gedanken lösen, dass wir geboren wurden und sterben müssen, denn beides ist eigentlich nur unmittelbares Handeln. Die im Buddhismus früher üblichen Unterscheidungen der Geburt aus dem Schoß, aus der mystischen Verwandlung, aus dem Ei oder aus der Feuchtigkeit sind nach Dôgen zunächst und vor allem nur Begriffe und Ideen. Sie verbergen mehr, als dass sie offen legen und sind nur dann sinnvoll, wenn man ihre Begrenztheit in der Kommunikation und Lehre klar erkennt.
Bei genauer Betrachtung kann man daher auch nicht sagen, dass Gautama Buddha gestorben ist, denn seine Lehre und sein Wirken und nicht zuletzt seine moralische Reinheit offenbaren sich im Handeln des Hier und Jetzt. Sein körperliches Sterben erweist sich dagegen als weniger wichtig. Das wahre und reine Handeln im Zazen und im Alltag wird durch nichts eingeschränkt und lebt aus sich selbst. Es besitzt also umfassende Freiheit, die aber niemals auf Kosten anderer handelt.
Dôgen untersucht dann im Einzelnen ein berühmtes Koan-Gespräch zweier Meister: Seppô lehrte:

"Die Buddhas der drei Zeiten sind in der Flamme (des Kohleofens hier) und drehen das große Dharma-Rad".

Sein Schüler und großer Meister Gensa äußerte sich dazu wie folgt:

"Die Flamme verkündet den Dharma für die Buddhas der drei Zeiten und die Buddhas der drei Zeiten stehen auf der Erde und hören den Dharma".
Was ist mit diesen zunächst eigenartig erscheinenden Aussagen in Bezug auf das wahre reine Handeln und den Dharma gemeint? Gibt es Unterschiede dieser beiden berühmten buddhistischen Meister, die in der Blütezeit des Buddhismus im neunten Jahrhundert in China gelebt haben? Warum werden die Flammen als Gleichnis für den Dharma und damit für die Wirklichkeit und Wahrheit des Handelns verwendet?
Zunächst ist festzustellen, dass ein enger Bezug zum Lotus-Sutra besteht, in dem das Lehren und Hören dieses Sutra ganz hoch geschätzt wird. Es wird aber von Dôgen keinesfalls behauptet, dass es höherwertig ist, den Dharma zu lehren als ihn zu hören, denn beides ist reines Handeln im Sinne des Buddhismus. In der ersten Aussage von Meister Seppô heißt es, dass die Buddhas der drei Zeiten in der Flamme sind und das Dharma-Rad drehen. Flamme und Buddha sind also identisch, und im dauernden Veränderungsprozess offenbart sich der Dharma oder wie es im Buddhismus häufig heißt, dreht sich das Dharma-Rad. Es hat also überhaupt keinen Sinn, etwas festhalten zu wollen und es als dauerhaftes Ding oder statische Sache zu verstehen, sondern das Leben oder das Dharma-Rad drehen sich wie das Handeln des Alltags.
Meister Gensa stellt bei seiner Aussage etwas anderes in den Mittelpunkt: Er spricht davon, dass die Flamme den Dharma für die Buddhas verkünden, dass die Buddhas auf der Erde stehen und den Dharma hören. Wenn es heißt, dass die Buddhas dort stehen, ist damit gemeint, dass sie achtungsvoll zuhören und dies ohne Ablenkung und Eigennutz tun. Es wäre zu kurz gegriffen, wenn die Flammen hier als Subjekt erscheinen, die den Buddhas etwas mitteilen. Es ist sicher gemeint, dass die Buddhas eine Einheit sind mit den Regeln und Gesetzen der Welt und des Universums und dass diese Einheit wesentlich ist für die buddhistische Lehre. Die Buddhas denken sich nicht selbst irgend eine Lehre aus, sondern sie geben das reine Gesetz der Welt wieder und dadurch kommen die Menschen zur Wirklichkeit und Wahrheit. Im Lotus-Sutra heißt es weiter, dass es schwierig ist, den wahren Dharma zu lehren und zu hören. Wesentliches in dem notwendigen Lern- und Befreiungsprozess wird nach Dôgen durch die Praxis des Zazen verwirklicht.
Die Aussagen der beiden oben genannten Meister Seppô und Gensa, dass die Buddhas in der Flamme sind, dass die Flamme den Dharma verkündet und die Buddhas zuhören, sind in der Tat nicht leicht zu verstehen, entwickeln jedoch, je mehr man sich mit ihnen beschäftigt, eine erhebliche Tiefenschärfe und auch poetische Kraft. Die Flammen sind zweifellos auch Symbol der Reinheit und der Wärme. Sie geben auch wieder, dass das wahre Handeln nicht von Ehrgeiz und Mutwillen angetrieben werden sollte, sondern dass zum Handeln auch das Geschehenlassen und Sich-Ereignen hinzugehört. Dôgen verwendet häufig die Formulierung des Handelns und Geschehenlassens, also der Tat und der Tatkraft einerseits und des offenen Geschehenlassens andererseits. Außerdem ist das Feuer nach alter indischer Lehre eines der konkreten Elemente des Universums wie Wasser, Erde und Luft und daher keine Spekulation oder Fantasie sondern unmittelbar zu erfahren wie das Handeln.
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