Sonntag, 14. Oktober 2007

Wie begrenzen unsere Sprache und unser Denken das Leben?

Meister Dôgen sagt uns häufig, dass wir die Grenzen der Sprache und des intellektuellen Denkens überschreiten müssen, um zur buddhistischen Wirklichkeit und Wahrheit vorzudringen.

Schulkinder in Kamakura


Dabei empfiehlt er uns, Zazen zu praktizieren, um zum Gleichgewicht zu kommen und auf dieser Grundlage zu einem intuitiven Bewusstsein zu gelangen. Nishijima Roshi betont häufig die große Bedeutung der buddhistischen Intuition, die sich im Zustand des Gleichgewichts ereignet und eine größere Weisheit umfasst als das verstandesmäßige Denken. Diese Intuition sei auch die Voraussetzung für richtige Entscheidungen auf unserem Lebensweg und ergibt erst die wirkliche Chance, das vielfältige Leiden zu überwinden und zu Frieden und Glück zu gelangen. Nach meinem Verständnis handelt es sich dabei um ein besonderes erweitertes Bewusstsein, das vor allem durch die Praxis des Zazen entwickelt wird und bis in wirklichkeitsnahe Träume reicht, die das oft eingeengte Tagesbewusstsein überschreiten. Dies erläutert Dôgen tiefgründig z. B. im Kapitel „Einen Traum in einem Traum lehren“ (Kap. 38, Muchu-setsumu). Ein solcher Zustand des intuitiven erweiterten Bewusstseins wird im Westen sicher zu wenig beachtet, da unser Lebensverständnis wesentlich durch die intellektuellen Philosophien nicht zuletzt aus der antiken griechischen Tradition geprägt ist. Es ist das große Verdienst von Freud in der modernen Zeit den oft höheren Wahrheitsgehalt von Träumen herausgearbeitet und für die Heilung von psychischen Krankheiten nutzbar gemacht zu haben.

Wir wissen heute, dass unser Denken eng mit unserer Sprache gekoppelt ist und sich häufig sogar in Form der Sprache selbst vollzieht. Dabei sollen auch die abstrakten Sprachen der Naturwissenschaft (z. B. Chemie) und der Mathematik ausdrücklich einbezogen werden.
Damit kommen wir zu der zentralen Frage, wie unsere westlichen Sprachen eigentlich aufgebaut sind und welche weltanschaulichen Grundannahmen in ihnen wirksam sind, die wir selbst kaum erkennen können. Durch diese Sprache sind damit Möglichkeiten und Grenzen unseres Denkens und Kommunizierens wesentlich vorgeprägt.

Fast alle westlichen Sprachen haben indo-europäische Wurzeln, dazu gehören neben Griechisch, Latein, Englisch, Deutsch auch die indischen Sprachen wie Sanskrit und Pali. Gautama Buddha kannte also die Sprach- und Denkbarrieren dieser Sprachfamilie genau, aber seinem Genie ist es gelungen, diese z. T. engen Grenzen zu überwinden und damit den Weg für eine neue Freiheit zu eröffnen, um die wesentlichen Ursachen für so vieles Leiden in unserem Leben auszuschalten. Wie Nishijima Roshi eindrucksvoll belegt, führt uns der Weg dieser Befreiung von Gautama Buddha über Nagarjuna direkt zu Meister Dôgen und dem ostasiatischen Zen-Buddhismus.
Wo liegen nun die Begrenzungen unserer westlichen Sprachen und unseres Denkens für die wichtigen Fragen der Existenz? Wie werden dadurch die wesentlichen Entscheidungen unseres Lebens vorgeprägt, z. B. die Wahl unseres Partners und des Berufes? Und was raten uns Gautama Buddha und Dôgen, wie wir uns aus dieser Sprach- und Denkfalle befreien können, um das Leiden zu überwinden?

Die folgenden Aussagen hierzu beruhen wesentlich auf mehreren Gesprächen mit Peter Gäng, dem ich hier ausdrücklich dafür danken möchte.
Die westliche Welt benutzt wie erwähnt Sprachen, die aus der indo-europäischen Sprachfamilie hervorgegangen sind: z.B. Deutsch, Englisch, Griechisch, Latein und die daraus sich entwickelnden modernen Sprachen sowie die slawischen Sprachen. Zu dieser Gruppe gehören auch die Sprachen von Gautama Buddha, die im alten Indien gesprochen wurden, denn er war ein Nachkomme der indo-europäischen Einwanderer.
Diese Sprachen sind so aufgebaut, dass sie grundsätzlich ein Subjekt, ein Objekt und ein Verb als Verbindung zwischen Subjekt und Objekt haben.


Beispiel: „Ich halte eine Tasse“.
Ich als Subjekt tue etwas (halten) mit einem Gegenstand (Tasse)oder einer Sache.
Dies ist etwas vereinfacht die Grundstruktur unserer Sprache und unseres Denkens.
Es ist einleuchtend, dass wir damit in der Welt der Dinge und des Materiellen gut arbeiten können: Subjekt-Prädikat-Objekt. Im Überlebenskampf der Menschen in früheren Zeitaltern, in der die Sprachen entstanden sind, war eine solche Grundstruktur der Kommunikation und des Denkens unbedingt notwendig und auch sinnvoll. Die Trennung von Subjekt und Objekt ist in der materiellen Welt und Weltanschauung also durchaus angemessen. Aber können wir mit einem solchen Weltmodell auch existentielle Fragen wie Liebe, Partnerschaft, Vertrauen, Leiden und Glück usw. richtig d.h. angemessen „denken“? Sicher nur zum Teil oder oft mit schlimmen Folgen.

In diesen Sprachen werden die Subjekte und Objekte dann noch weiter gekennzeichnet durch bestimmte Merkmale, wie z.B. Alter, Geschlecht, Größe, Augenfarbe, aber auch durch bestimmte Charaktereigenschaften wie z.B. Sanftmut, Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit, Spiritualität, Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Aggressivität usw. Dass diese Merkmale durchaus nicht immer eindeutig und verlässlich sind und dass Subjekt und Objekt ungenau oder falsch kennzeichnen, muss dabei sicher kaum erwähnt werden. Wenn die Objekte Gegenstände oder Sachen sind, lassen sich bestimmte Eigenschaften wie Farbe, Größe, Gewicht usw. sicher ganz gut festlegen.
Die Grundlage unserer Sprache besteht also aus einem Weltbild, dass es dauerhafte Subjekte wie z.B. Menschen und dauerhafte Objekte wie z.B. Dinge oder Ideen gibt, die von einander getrennt sind. Diese haben jeweils bestimme Eigenschaften, die meist ebenfalls als dauerhaft angenommen werden und handeln dann irgendwie miteinander.
Wie gesagt sind unser Denkvermögen und unser Verständnis der Welt ganz wesentlich mit einer solchen Sprache verbunden und auch durch die Sprache begrenzt. Das heißt, unsere Denkmöglichkeiten in dieser Welt werden maßgeblich dadurch vorgeprägt, welche Strukturen in unserer Sprache vorhanden sind. Für die indo-europäischen Sprachen bedeutet dies, dass wir von den genannten dauerhaften Subjekten und Objekten mit bestimmten Eigenschaften und Merkmalen ausgehen und dass es bestimmte Beziehungen zwischen ihnen gibt. Wir müssen davon ausgehen, dass auch die alten Inder zu Buddhas Zeiten ähnlich wie die heutigen westlichen Kulturen, also Griechenland und Rom mit diesen Sprach- und Denkstrukturen groß geworden sind und innerhalb dieser Strukturen gedacht und die Welt verstanden haben. Eine solche derartig vereinfachte Interpretation vollzieht sich aus buddhistischer Sicht trotz der Unfassbarkeit und unendlichen Komplexität der Welt, kann also immer nur Teilaspekte dieser Wirklichkeit erfassen, beleuchten, strukturieren und kommunizierbar machen.
Auch unser Denken im Idealismus hat diese Grundstruktur. Die Objekte sind dann die Ideen, Worte und Gedanken, aber auch Vorstellungen, Erinnerungen usw. Auch hier gibt es die Trennung von Subjekt und Objekt als Grundverständnis der Welt und des Lebens.

Wir müssen also davon ausgehen, dass durch den Aufbau unserer Sprache eine grundsätzliche Vor-Interpretation der Welt geleistet wird, die uns meist nicht bewusst ist und der wir uns ohne besondere Schulung kaum entziehen können. Sie stammt aus der Welt der Dinge, Organisationen und des Materiellen und wurde auf die Welt der Ideen und Gedanken übertragen. Dies sind in der Lehre von Nishijima Roshi die Lebensphilosophien des Materialismus und Idealismus, die niemals die ganze Wahrheit erfassen können.
Ob es also wirklich immer derartige Subjekte und Objekte in der Art und Weise unserer Sprache und nach unserem sog. gesunden Menschenverstand gibt, ist höchst unsicher und besonders kennzeichnend für die indo-europäische Sprachfamilie und deren Kulturen. Es ist sehr zweifelhaft, ob wichtige psychische, existenzielle und spirituelle Bereiche, bei denen es um unsere Zufriedenheit, unser Lebensglück und den Sinn des Lebens geht, mit diesem Grundansatz unserer Sprache sinnvoll bewältigt werden können. Gautma Buddha hat dies verneint und Meister Dôgen fügt die Lebensphilosophie des Handelns und der Moral hinzu. Sie beschreiben in vielen Koan-Geschichten, wie man aus der Scheinwelt der fest gefügten Ideen in das Hier und Jetzt jenseits von Sprache und Denken zur Wirklichkeit zurückfindet. Vermutlich sind die ostasiatischen Sprachen sogar weniger an Subjekten und Objekten orientiert als wir, sodass wir noch größere Probleme haben, die Bereiche der Worte und des Denkens zu überschreiten.

Dôgen beschreibt z. B., dass wir die Frage der Buddha-Natur mit einem solchen Denkansatz von Subjekt und Objekt überhaupt nicht behandeln können und kommt zu dem Schluss, dass wir weder sagen können, dass wir die Buddhanatur haben, noch dass wir sie sind aber dass auch das Gegenteil nicht richtig ist. Das ganze verwendete Denkmodell wird der Buddhanatur überhaupt nicht gerecht. Am besten man schaltet das Denken regelmäßig einmal aus: in der Zazen-Praxis!

Weitere Informationen:

Das Geheimnis der Buddha-Natur

Die vier Lebensphilosophien des Buddhismus

Der Mensch Gautama Buddha

Was ist das „Etwas“, das uns jäh begegnet, jenseits von Denken und Wahrnehmung?