Samstag, 22. Dezember 2007

Die drei Welten der Ideen, der Formen und des Handelns sind der umfassende Geist

In diesem kurzen, aber sehr inhaltsreichen Kapitel des Shôbôgenzô (Kap. 47, Sangai yuishin) unterstreicht Meister Dôgen in aller Klarheit, dass auch die Welt der Formen und damit des Materiellen zum Geist des Buddha-Dharma gehören.

Emai Shan in China

Nach der alten indischen Tradition gliedern sich die drei Welten des Universums, also der gesamten Welt und des Lebens, in die drei Bereiche: Ideen/Denken, materielle Formen/Fühlen und die Welt der Nicht-Formen, die Dôgen als Handeln versteht. Genau genommen gibt es jedoch nur eine einzige umfassende Welt, sodass die Unterteilung in diese drei Welten lediglich erklärenden und pädagogischen Charakter hat und wie Dôgen hier ganz deutlich macht, keine Unterteilung und Trennung der Wirklichkeit selbst ist, wie dies im üblichen Sinn durch das gewöhnliche subjektive Denken suggeriert wird.

Hier geht es Dôgen vor allem um die Welt der Formen und des Materiellen und deren Einheit mit dem umfassenden Geist. Unsere Vorstellungen vom Universum, also von der sichtbaren und unsichtbaren Materie im Weltraum, hat meistens das Materielle im Auge, aber schon bei der naturwissenschaftlich nachgewiesenen Energie, die nach heutiger Kenntnis etwa Dreiviertel des Universums ausmacht, ist der Begriff der Materie nicht mehr ganz korrekt, weil Energie sich in Materie umwandeln kann. Das heißt aber nichts anderes, als dass unsere üblichen Vorstellungen von festen materiellen Dingen, aus denen die Welt angeblich besteht, nur von begrenzter Aussagekraft und eingeschränktem Wahrheitsgehalt sind.
Meister Dôgen zitiert Shakyamuni Buddha wie folgt:

"Die drei Welten sind nichts anderes als der eine Geist, neben dem Geist gibt es nichts anderes. Buddha und die Lebewesen- diese drei sind ohne Unterschied."

Wie schon in anderen Kapiteln des Shôbôgenzô darf man den Geist nicht wie in der europäischen Philosophie oder in der Umgangssprache üblich als etwas Immaterielles verstehen, dann wäre der Geist weitgehend identisch mit dem Denken und Bewusstsein, oder auch mit einem gedachten Weltgeist wie bei Hegel. Eine solche Trennung von Geist und Körper führt aus Sicht des Buddhismus in die Sackgasse, denn zur Wirklichkeit der Welt gehören nicht nur die Ideen und Vorstellungen, sondern auch die Form und Materie und das Handeln. Wenn das Gleichgewicht oder die Erleuchtung wirksam ist, eröffnet sich die Einheit dieser sog. drei Welten und genau dies ist der hier angesprochene buddhistische Geist.
Dôgen sagt hierzu:

"In diesem (obigen) einen Gedicht ist die Kraft und Anstrengung von Buddhas ganzem Leben gebündelt. Die Kraft und Anstrengung seines Lebens ist das vollkommene Ganze der Dynamik des ganzen Universums." Und weiter: "Deshalb sind die Worte des Tathagata, dass die drei Welten nichts anderes als der eine Geist sind, die ganze Verwirklichung des Tathagata (selbst); sie sind das Ganze seines Lebens und sind in diesem Gedicht zusammengefasst."

Es wird dann weiter ausgeführt, dass es außerhalb dieses Geistes, der mit den drei Welten identisch ist, nichts anderes gibt und geben kann und dass die drei Welten in der Wirklichkeit vorhanden sind, das heißt, auch die materielle Dimension ist wesentlicher Teil dieser Wirklichkeit. Um diese Lebensphilosophie der Dinge, der Vielfalt in der Welt und der Materie geht es Dôgen besonders in dem hier behandelten Kapitel. Mit dieser zweiten Lebensphilosophie der Form und Materie ist nach Nishijima Roshi die Wahrnehmung unauflösbar verbunden. Hierbei kommt dem Sehen wiederum eine große Bedeutung zu. Außerdem sind die sinnlichen Genüsse ein wichtiger Teil dieser Lebensdimension, da sie mit unseren Sinnesorganen und deren Reizungen fest verbunden sind. Der im Buddhismus hoch geschätzte mittlere Weg als Möglichkeit, das Leiden und die Katastrophen in unserem Leben entweder ganz zu vermeiden oder in der Folgewirkung wesentlich abzumindern, besteht gerade darin, dass man sich nicht den extremen Leidenschaften der Sinnesreizungen hingibt und dass man auch im Bereich der Ideen und Vorstellungen nicht zu Extremen neigt. Diese entarten nämlich oft unbemerkt und werden dann zu Ideologien, die viel Unheil bei den Menschen und in der Welt anrichten.

Die Wirklichkeit der drei Welten sehen wir "einerseits durch das alte Nest der Gewohnheiten und andererseits in jedem Augenblick frisch und neu." Im alten China wurde der Begriff "Nester" für gedankliche Verstrickungen und festgefahrene Vorstellungen verwendet, die nicht zuletzt durch Ideologien und Vorurteile bestimmt sind. Es ist ein erklärtes Ziel des Buddha-Weges, sich aus diesen Nestern zu befreien, die Verstrickungen zu lösen und abzuschütteln und daraus zu erwachen. Dabei ist die Übungspraxis des Zazen eine nach Dôgen und Nishijima Roshi eine ausgezeichnete Methode, um das Bewusstsein im Shikantaza von Gedanken und aufgeladenen Emotionen zu befreien. Dann hat man den Eindruck, dass man den Körper fallen lässt. Dadurch öffnet sich das „Tor zum Frieden und zur Freude“ der Wahrheit des Buddha-Dharma. Dôgen sagt weiter:


"Die drei Welten zu benutzen, um den (Bodhi) Geist zu erwecken und zu schulen und uns die Wahrheit und Nirwana erfahren zu lassen, ist nichts anderes als Buddhas Besitz." Dôgen zitiert dann auch Shakyamuni Buddha: "Die drei Welten hier und jetzt sind alle mein Besitz und die Lebewesen darin sind alle meine Kinder."

Mit den Kindern wird auf das Gleichnis im Lotus-Sutra hingewiesen, in dem die spielenden Kinder von dem Vater aus dem brennenden Haus gerettet werden, weil er sie überreden kann, das Haus zu verlassen und in die schön geschmückten Kutschen einzusteigen. Dies ist das Symbol für die Befreiung durch die Buddha-Lehre und es kennzeichnet die Sorgen und die Liebe des Vaters, um aus der brennenden und lodernden Welt der Extreme und Emotionen heraus zu kommen. Damit ist aber keine Weltflucht gemeint, sondern das Erwachen zur Wahrheit und Wirklichkeit in dieser Welt, die Dôgen hier als die drei Welten bezeichnet. Dôgen sagt weiter:

"Die Wirklichkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft behindert nicht das Hier und Jetzt, und das wirkliche Hier und Jetzt wird nicht durch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eingeschränkt."

Mit dem Hier und Jetzt ist die Sein-Zeit des Augenblicks und das Unmittelbare des hiesigen Ortes gemeint, also die existenzielle Erfahrung im Leben als direktes Handeln im Augenblick und in der Gegenwart. In diese Gegenwart wirkt zwar die Vergangenheit durch das Gesetz von Ursache und Wirkung hinein, ist aber in der ganzen intuitiven Fülle der Wirklichkeit ohne unterscheidendes Denken gegenwärtig. Die existenzielle Sein-Zeit wird als wahre Wirklichkeit nicht durch die gedachte Vergangenheit oder erwartete Zukunft behindert oder, wie es hier heißt, eingeschränkt. Dôgen legt großen Wert darauf, dass sowohl die Sein-Zeit im gegenwärtigen Augenblick existiert und dass auch das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht zuletzt beim moralischen Handeln die Wirklichkeit selbst ist. Er arbeitet in einem gesonderten Kapitel über das Gesetz von Ursache und Wirkung heraus, dass es keinesfalls vertretbar ist, dies beiseite zu lassen oder gar abzulehnen. Er distanziert sich damit eindeutig von einigen Strömungen im Zen-Buddhismus, die behaupten, dass ein Erleuchteter nicht mehr unter das Gesetz von Ursache und Wirkung fällt.

Dôgen behandelt in diesem Kapitel vor allem den an die Form gebundenen Bereich der Wirklichkeit und Nishijima Roshi ordnet es in einer Gruppe von insgesamt vier Kapiteln zu materiellen Thema zu. Dôgen sagt hierzu:

"Deshalb sind die Blüten und Früchte aller Dinge Buddhas Besitz, und die großen Felsen und kleinen Steine sind Buddhas Besitz. Es gibt das friedvolle Verweilen im Wald und in den Feldern, der Wald und die Felder sind schon frei."

Damit ist die Natur in ihrer ganzen Schönheit und Kraft angesprochen, aber nicht nur die Blumen und Bäume sondern auch die Felsen und Kiesel. In einem anderen Kapitel wird herausgearbeitet, dass die Natur den wahren Buddha-Dharma lehrt und diese Natur wird dort als "nicht empfindende Wesen" bezeichnet. Auch alle Lebewesen sind Teil der drei Welten und außerhalb dieser drei Welten gibt es nichts, denn dies wäre auch keine Wirklichkeit. So offenbaren sich die drei Welten und insbesondere die Welt der Formen und der Sinnesreizungen in diesem Sinne. Dôgen zählt hier häufig folgendes auf: Hecken, Mauern, Ziegel, Kieselsteine, Berge, Flüsse und die ganze Erde, aber vor allem geht es um


"die Haut, das Fleisch, die Knochen und das Mark und (Buddhas) Emporaliten einer Blume und (Mahakashyapas) lächelndes Gesicht."

Damit wird auf den großen Meister Bodhidharma, der den wahren Buddhismus nach China brachte, hingewiesen und auf die Symbolik des wortlosen Hochhaltens einer Blume durch Shakyamuni Buddha bei der Dharma-Übertragung auf seinen Nachfolger Mahakashyapas. Die aufgezählten Begriffe bezeichnen scheinbar materielle und formgebundene Dinge, haben aber in Wirklichkeit eine umfassende und viel tiefer gehende Bedeutung in der Buddha-Lehre.
Auch die Farben wie Blau, Gelb, Rot und Weiß oder Formen wie Lang, Kurz, Eckig oder Rund sind Teil der genannten Lebensdimension und gehören zu dem hier gemeinten umfassenden Geist, der mehr als die Wahrnehmung, das Denken und das Bewusstsein ist. Dôgen sagt hierzu:


"Der Geist ist das Spritzen des Wassers, der Schaum und die Flamme, der Geist ist die Frühlingsblume und der Herbstmond. Die sich ständig verändernden Augenblicke sind Geist. Weil dieser Geist niemals zerstört werden kann, ist er die wirkliche Form aller Dharmas."

Anschließend zitiert Dôgen ein berühmtes Koan-Gespräch zwischen dem älteren Meister Gensa und dem jüngeren Meister Keichin, das auch in seiner Koan-Sammlung enthalten ist und dort von Nishijima Roshi erläutert wird. Man muss wissen, dass Meister Gensa in besonders klarer Weise zwischen Fantasien und Spekulationen einerseits und der Wirklichkeit andererseits unterschieden hat und dies in den Koan-Geschichten von ihm wiedergegeben wird. Das folgende Koan erscheint zunächst kaum verständlich und zumindest sehr eigenartig zu sein, es lautet wie folgt: Der große Meister Gensa fragte:

"Wie verstehst Du, dass die drei Welten nichts anderes als der Geist sind?"
Der jüngere Meister Keichin antwortete nicht direkt auf diese Frage und zeigte auf einen Stuhl, indem er seinerseits fragte:

"Wie bezeichnest Du dies, Meister?" Gensa antwortete:
"Als einen Stuhl." Der jüngere Meister Keichin sagte dann:

"Du verstehst nicht, dass die drei Welten nichts anderes als Geist sind."
Der große Meister Gensa setzte trotzdem das Gespräch fort: "Ich bezeichne dies als Bambus und Holz, wie bezeichnest Du es?"
Der jüngere Keichin sagte: "Auch ich bezeichne dies als Bambus und als Holz."

Dann fügte der große Meister Gensa hinzu:

"Es ist unmöglich einen Menschen zu finden, der den Buddha-Dharma versteht, selbst wenn wir ihn auf der ganzen Erde suchen."

Was soll diese Koan-Geschichte ausdrücken und worum geht es eigentlich dabei? Wenn man ganz genau überlegt, sind die Dinge und die materiellen Gegebenheiten in diesem Fall durch die Begriffe „Bambus“ und „Holz“ gekennzeichnet. Dagegen ist die Bezeichnung „Stuhl“ schon eine Abstraktion und Erweiterung, denn damit ist vor allem die Funktion des Sitzens gemeint und nicht allein das Holz und der Bambus als Material. Durch die Funktion und Bestimmung eines Stuhles wird also der Bereich der Zwecke, der Gedanken und Funktionen angesprochen und wir befinden uns dann nicht mehr im Bereich der Dinge und der Materie.


Eine solche Unterscheidung ist typisch für die Koan-Geschichten, die von Meister Gensa berichtet werden. Nishijima Roshi bezeichnet bekanntlich den Bereich der Ideen, Funktionen und Zwecke als die erste Lebensphilosophie des Idealismus. Dôgen möchte hier aber auf die reine Dinglichkeit und das Materielle abheben und erläutert uns, dass diese Dimension eine der drei Welten ist und diese mit dem Geist im buddhistischen Sinne zusammenfällt. Dass der alte Meister Gensa zunächst den Stuhl erwähnt, kann man als eine Art Falle in diesem Koan-Gespräch ansehen und der jüngere Meister Keichin sagt auch richtiger Weise, dass Gensa nicht verstehen würde, dass die drei Welten nichts anderes als Geist seien und verfängt sich nicht in der aufgestellten Falle.


Beide Meister sind sich einig, dass der Bezug zum Bambus und das Holz genau richtig ist, wenn man die Welt der Formen und der Materie ansprechen will. Dies ist in der Tat für einen Menschen aus dem Westen nicht einfach zu verstehen, dass die Dinge und Materie, also z. B. die Felsen, das Wasser, die Bäume, Hecken und Gräser, nach der buddhistischen Lehre auch der Geist sind.
Wie ist nun der berühmte letzte Satz von Meister Gensa zu verstehen, dass man auf der ganzen Erde keinen Menschen finden würde, der den Buddha-Dharma versteht? Mit dem Begriff "verstehen" ist hier der intellektuelle Verstand gemeint, mit dem man in der Tat allein die Lehre des Buddhismus nicht erfassen kann. Dazu ist die Intuition für den Geist der Buddha-Lehre erforderlich, denn mit dem Denken und den verstandesmäßigen Unterscheidungen kann man die ganzheitliche buddhistische Lehre unmöglich verstehen. Der letzte Satz gehört zur vierten umfassenden Lebensphilosophie, die wir Erwachen, Erleuchtung, Gleichgewicht oder Leerheit nennen.

Dôgen bittet uns dann, dieses berühmte Koan-Gespräch nicht einfach als gegeben hinzunehmen, sondern selbst Fragen zu stellen, um tiefer einzudringen. Wenn der große Meister Gensa sagte:


"Ich bezeichne dies als Bambus und Holz", so sagt Dôgen:
"Ihr solltet diese einzigartige Aussage bis zu Ende erfahren, bevor und nachdem ihr sie gehört habt."
Wir sollen also keineswegs gläubig den alten Lehren der großen Meister und denen von Dôgen selbst folgen und sie vielleicht auswendig lernen und sie hersagen können, sondern wir sollen sie durch vielfältige tief gehende Fragen untersuchen. Wenn Meister Gensa am Ende sagte, dass es keinen Menschen geben würde, der den Buddha-Dharma mit dem Intellekt versteht, so bedeutet dies natürlich auch, dass wir das Thema dieses Kapitels: "Die drei Welten sind nichts anderes als der Geist" nicht intellektuell verstehen können.


Wir müssen dies also in der Praxis erfahren und vertiefend erforschen und dabei kann der Verstand nicht isoliert werden, wie dies in der westlichen Philosophie und der Wissenschaft häufig der Fall ist. Die Praxis ist unauflösbar mit dem Handeln im Hier und Jetzt verbunden und ohne Moral kann es keine buddhistische Lehre und kein Leben auf dem Buddha-Weg geben.