Freitag, 28. Dezember 2007

Die Wahrheit mit Körper und Geist erlernen

In diesem kurzen, aber wichtigen Kapitel des Shôbôgenzô (Kap. 37 Shinjin gakudô) fasst Meister Dôgen wesentliche Aussagen zusammen, die zum Teil schon in anderen Kapiteln genauer und im Einzelnen erläutert wurden.


Tempelanlage in Kamakura


Die Überschrift dieses Kapitels besagt, dass man nach der buddhistischen Lehre die Wahrheit und Befreiung nur dadurch erlernen kann, wenn man sowohl den Geist als auch den Körper schult und sich immer klar darüber ist, dass beide in der Wirklichkeit unauflösbar zusammengehören und eine Einheit bilden.

Während wir in der westlichen Philosophie den Intellekt und Geist meist völlig losgelöst vom Körper des Menschen behandeln, wird eine solche Trennung im Buddhismus als sinnlos rundweg abgelehnt. Wenn Meister Dôgen in diesem Kapitel zunächst den Lernvorgang des Geistes und dann den des Körpers behandelt, hat dies lediglich didaktische Gründe, um die jeweiligen Bereiche möglichst klar darstellen zu können. Die Lehre vom Handeln und Tun hat im Buddhismus eine sehr große Bedeutung und ist für den Befreiungs- und Lernprozess auf dem Buddha-Weg notwendig. Zum Handeln gehören auch immer sowohl der Geist als auch der Körper.

Dôgen stellt an den Anfang seiner Überlegungen unseren klaren Entschluss, dass wir den Buddha-Weg gehen wollen oder, wie es in einem anderen Kapitel heißt, dass wir den "Bodhi-Geist" bei uns erwecken. Auch in den vier edlen Wahrheiten und dem achtfachen Pfad steht am Anfang der Entschluss und die klare Entscheidung, diesen Weg zu gehen, um das Leiden zu überwinden. Dôgen sagt hierzu:

"Wenn ihr euch nicht entschließen könnt die Wahrheit zu erlernen, entfernt sie sich immer mehr von euch."

Er betont damit, dass man durch diesen Entschluss zwar noch nicht zur Wahrheit selbst erwacht, aber dass man ohne eine solche Entscheidung sich in seinem Leben immer mehr verirrt und sich z. B. im Materialismus verliert. Wesentlicher Teil dieses Wahrheitsweges ist moralisches Denken und Handeln und Dôgen zitiert hierzu Zenmeister Nangaku:

"Es gibt die Praxis und es gibt die Erfahrung, aber wenn sie nicht rein sind, kann man (die Wahrheit) nicht verwirklichen."


Die Moral darf natürlich nicht im Denken und bei den Ideen stecken bleiben, sondern muss in Handeln umgesetzt und im Hier und Jetzt verwirklicht werden. Gleichwohl ist der Entschluss zum moralischen Handeln zunächst im Geist und Willen angesiedelt und dies ist dann der Start für ein Leben auf dem Buddha-Weg.
Dôgen geht auf verschiedene Arten des Geistes ein, die nicht zuletzt aus der altindischen Buddha-Lehre in China übernommen wurden: z. B. citta ist Vernunft und Intellekt; hridaya ist das "denkende Herz", in dem Gefühle und mentale Aktivitäten zusammengefasst sind und vriddha ist der konzentrierte und ausgeglichene Geist. Dôgen warnt uns jedoch, dass wir dies rein theoretisch verstehen sollen, sondern sagt:

"Dann erlernt und erforscht ihr sie im tätigen Handeln, das selbst das Erwachen des Bodhi-Geistes ist."

Weiter führt er aus, dass es auf die Gegenwart und den Augenblick beim geistigen Handeln ankommt, wie dies in dem großen Kapitel Sein-Zeit (Uji) von ihm in großartiger Weise dargelegt wird. Der Lernvorgang im Geist soll dabei den Intellekt überschreiten und Dôgen sagt, dass man sowohl durch das Denken als auch durch das Nicht-Denken üben soll. Damit ist zweifellos die Zazen-Praxis angesprochen, die im Shôbôgenzô von zentraler Bedeutung ist. Die Verbindung vom Meister zum Schüler, der dann selbst Meister wird, hat außerdem eine fundamentale Bedeutung, und Dôgen spricht davon, dass dabei „der Geist durch den Geist lernt", dass also der Geist des zukünftigen Meisters von dem des vorherigen im direkten ganzheitlichen Kontakt den geistigen Lernprozess voranbringt und damit das Dharmad-Rad dreht.

Dôgens umfassende Vorstellung vom Geist und der Einheit mit der konkreten Realität wird dadurch deutlich, dass er Berge, Flüsse, die große Erde, Sonne und Mond einbezieht und sich dies alles je im gegenwärtigen Augenblick verwirklicht. Er übersteigt dabei die materielle Sichtweise der äußeren Form, die sich leicht bei den Begriffen "Berg" oder "Fluss" einschleicht. Daher sind geometrische Bezeichnungen wie Innen oder Außen, Groß oder Klein und dergleichen ungeeignet, um diese Einheit von Geist und konkreter Wirklichkeit zu erfassen. Bemerkenswert ist auch sein folgender Satz:

"Ihr solltet deshalb fest darauf vertrauen und annehmen, dass dieser Geist sich auf natürliche Weise von selbst daran gewöhnt, die Wahrheit zu erlernen. Dies nennen wir das Erlernen der Wahrheit mit dem Geist."

Daraus wird sein tiefe Vertrauen zum Buddhismus sichtbar, dass es sich um einen natürlichen Lernvorgang handelt, wenn man auf dem Buddha-Weg das Erwachen oder die Erleuchtung und Befreiung erlebt. Aber nicht eine gewaltige Willensanstrengung ist maßgebend, sondern das dauernde Üben als Handeln selbst, also die Zazen-Praxis als vollkommenes Tun im halben oder ganzen Lotussitz und damit im Gleichgewicht. Das Erwachen ist deshalb auch kein „übernatürlicher“ Vorgang, sondern gerade im Gegenteil, etwas Natürliches, das sich allerdings nach Dôgen nicht ohne Übung und Praxis verwirklichen kann.

Nishijima Roshi empfiehlt in diesem Zusammenhang jedem, zweimal am Tag Zazen zu praktizieren und sich keine Sorgen darum zu machen, ob dies zur Erleuchtung führt oder nicht. Er sagt schlicht, die richtige Zazen-Praxis ist bereits die erste Erleuchtung und es gibt keinen Unterschied zwischen Handeln und einem Ziel, das erreicht werden soll.
Neben der Zazen-Praxis ist das Handeln im Alltag mit den Pflichten und Aufgaben des Menschen ein wesentlicher Teil des Buddha-Weges und des Erlernens der Wahrheit mit dem Geist. Dabei darf man sich nicht entmutigen lassen, wenn es Rückschläge gibt oder wenn der Lernprozess "in Stücke zerfällt", sondern man soll vertrauensvoll in den jeweiligen Situationen seines Lebens nach der Buddha-Lehre handeln. Auch der Angst besetzte Gedanke an den kommenden Tod führt überhaupt nicht weiter, sondern wirkt meist wie ein Hindernis für das Handeln im gegenwärtigen Augenblick, denn das Leben gehört dem Leben und nicht dem Tod.
Im Zen-Buddhismus wird immer wieder die Einheit mit der uns umgebenden konkreten Realität betont. Dôgen zitiert hierzu einen großen Landesmeister, der von einem Mönch gefragt wird:

"Was ist der Geist der ewigen Buddhas?" und er antwortet:
"die Zäune, die Mauern, die Ziegel und die Kieselsteine."

Dies sei nach Dôgen der richtige Weg, um den Geist für die Wahrheit zu schulen und nicht in intellektuelle Spekulationen abzugleiten, sondern es geht um den ausgeglichenen natürlichen Geist in dieser Welt. Er sagt:

"Die Worte sind im Gleichgewicht, der Geist ist im Gleichgewicht und die Welt ist im Gleichgewicht."

Damit ist der erwachte Zustand des Handelns im Hier und Jetzt gemeint, der im Einzelnen in dem großen Kapitel "Das verwirklichte Universum" (Kap. 3, Genjo kôan) dargestellt wird.
Dôgen geht dann auf den Lernvorgang mit dem Körper ein und bezieht sich ganz konkret auf unseren jetzigen Körper, den wir je haben. Das Körperliche ist unverzichtbar für den buddhistischen Weg und wird als wertvoll und äußerst wichtig gesehen. Hierin unterscheidet sich der Buddhismus wie erwähnt von der westlichen Philosophie und auch von vielen Religionen. Dôgen lehnt materialistische und naturalistische Strömungen ab, die den Genuss mit dem Körper in den Mittelpunkt stellen und behaupten, dass es keiner Übung und keines Lernvorganges bedarf, weil man von Natur aus schon rein und frei sei. Dies ist mit der moralischen Lehre und dem moralischen Handeln im Buddhismus überhaupt nicht vereinbar. An anderer Stelle beschreibt Dôgen, dass "der Körper Nagarjunas die Rundheit des Mondes und die Buddhanatur" ist. Der Körper offenbart also den Buddha-Dharma sozusagen parallel zur Sprache der Lehrrede. Es gibt einige Geschichten von großen Meistern, die allein durch Handeln des Körpers ein Sutra für andere vortragen, ohne es im herkömmlichen Sinn zu lesen. Die helfenden Bodhisattvas werden so beschrieben, dass sie jeweils einen Körper annehmen, der für die Hilfe der anderen richtig und nützlich ist, und hiermit wird der Körper in den Dienst des Bodhisattva-Handelns gestellt. Der Lernvorgang zur Wahrheit soll mit dem ganzen Körper vollzogen werden und dies überschreitet die Selbstsucht des Ich. Nach buddhistischer Vorstellung besteht der Körper aus den vier materiellen Elementen Erde, Feuer, Wasser, Luft und aus den fünf Komponenten (Skanda). Dôgen sagt hierzu:

"Dies ist die Wahrheit, dass der wahre Körper des Menschen das ganze Universum der zehn Richtungen ist."

Mit dem Körper handelt man selbst aktiv oder lässt etwas geschehen, das in die Umgebung und Situation eingebettet ist. Im Handeln selbst liegt die Wirklichkeit und Wahrheit und man sollte sich vor Bewertungen wie Richtig oder Falsch, Echt oder Unecht, Recht oder Unrecht usw. hüten. Dôgen sagt, dass das Leben des Körpers den Tod nicht behindern soll und dass umgekehrt auch der Tod nicht das Leben behindert.
Am Ende dieses Kapitels zitiert Dôgen einen großen Meister mit folgendem Gedicht:

"Das Leben ist die Verwirklichung der Dynamik des ganzen Universums.
Der Tod ist die Verwirklichung der Dynamik des ganzen Universums.
Sie erfüllen den ganzen Raum.
Der reine Geist ist immer im Augenblick."


Diese tiefgründigen Worte sollen wir nach Dôgen gründlich erforschen und erfahren, was damit gemeint ist. Dies bezieht sich nicht zuletzt auf das tägliche Handeln jedes Menschen, der in Pflichten und Aufgaben eingebunden ist. Es bringt nichts, wenn er in idealistischen Vorstellungen von Paradies und Nirwana lebt, denn in der Wirklichkeit hat er es im Hier und Jetzt mit der ganzen Breite der Wirklichkeit zu tun. Dôgen rät uns dringend, die erlernten Theorien wieder abzuschütteln und unmittelbar im Gleichgewicht zu leben und zu handeln.