Montag, 3. Dezember 2007

Die Wirklichkeit des Mondes

Wir wissen, dass Meister Dôgen den Mond sehr liebte und sich viel mit dessen Wirklichkeit und Schönheit beschäftigt hat.

Der Mond verändert während des Jahres fortwährend seine Gestalt: Einmal verschwindet er ganz als Neumond, dann bildet er eine schmale oben und unten spitze Sichel, die breiter und zu einem Halbmond wird und schließlich gibt es den Vollmond, der in klaren Nächten so hell scheint, dass man in seinem Licht fast ein Sutra lesen kann. Danach nimmt der Mond wieder ab, wird kleiner und schmaler bis er wieder als Neumond verschwindet. Der Mond bewegt sich also fortwährend in seiner Gestalt und seinem Standort am Himmel und unterscheidet sich insofern von der Sonne, die immer als helle Scheibe über den Himmel wandert und uns auch hinter dichten Wolken das Tageslicht gibt.
In diesem Kapitel "Der Mond" (Kap. 42, Tsuki) untersucht Dôgen anhand des Mondes die Wirklichkeit und diese unterscheidet sich grundsätzlich von der Wahrnehmung (materielle Sicht) und den Vorstellungen (Idealismus). Über dieses kompakte und nicht einfach zu verstehende Kapitel habe ich ein längeres Gespräch mit Nishijima Roshi geführt, in dem er unterstrich, dass der Buddhismus die Wirklichkeit zum Inhalt hat und er daher von dem buddhistischen Realismus sprach. Den Mond kann man nicht anfassen, das heißt, die sinnliche Wahrnehmung des Greifens und Tastens kann nicht verwendet werden. Der Mond ist immer entfernt und ungreifbar, ganz gleich, auf welche Weise man versucht, ihm nahe zu kommen. Wenn man auf den höchsten Berg der Umgebung steigt, ist man von ihm genau so weit entfernt wie auf dem flachen Lande. Man ist beim Mond ganz auf die sinnliche Wahrnehmung des Sehens angewiesen, denn er er gibt auch keine Töne von sich, er duftet nicht und lässt sich nicht anfassen. Warum hat Meister Dôgen gerade das Beispiel des Mondes gewählt, um den grundsätzlichen Unterschied von Wirklichkeit einerseits und der Wahrnehmung sowie Denken andererseits herauszuarbeiten? Der Mond wird auch in vielen Gedichten und von tiefer Poesie besungen und hat schon immer die Fantasie der Menschen beflügelt und getragen.

Im Buddha-Dharma hüten wir uns vor falschen romantischen Gefühlen, sondern wollen zur Wirklichkeit selbst vorstoßen und vorgefasste Meinungen, Ideologien, falsche Emotionen und Hektik auflösen. Aber wir sind weit offen für die Schönheit des Universums, der Welt und der Natur. Dazu müssen wir genau unterscheiden, was sozusagen künstlich durch Ideen und Denken erzeugt wird und uns dann romantische Gefühle vorgaukelt aber nicht wirklich und nicht echt ist. Diese Klarheit wird im Buddhismus Erleuchtung, Erwachen, Gleichgewicht oder auch Leerheit genannt. In dem Kapitel „Sein-Zeit“ erläutert Dôgen die buddhistische Lehre des Augenblicks im Hier und Jetzt und Nishijima Roshi betont dabei, dass die Vergangenheit lediglich eine Erinnerung ist und die Zukunft aus Erwartungen besteht. Weder die Vergangenheit noch die Zukunft sind danach die Wirklichkeit und Wahrheit selbst, denn diese gibt es nur im Handeln und im Gleichgewicht des gegenwärtigen Augenblicks. Dôgen sagt in diesem Zusammenhang:

"Die runde Verwirklichung vieler Monde ist nicht nur drei und drei vorn und drei und drei hinten. Wenn die vielen Monde ihre Rundheit verwirklichen, sind sie (aber auch) nicht nur (gedachte) drei und drei vorn und drei und drei hinten. "

Was ist damit gemeint? Die Redewendung "drei und drei vorn und drei und drei hinten" bedeutet im alten chinesischen Sprachgebrauch, dass etwas abzählbar ist, dies ist also ganz konkret die materielle Sicht der Dinge. Dôgen betont hier, dass mit einer solchen Zählweise die Wirklichkeit nicht ausreichend gesehen, beschrieben und erfahren werden kann. Wenn man zum Beispiel abzählt, wie viele verschiedene Formen der Mond im Laufe eines Monats hat, kann man ihn damit nicht richtig beschreiben. Er begründet seine Sicht und zitiert Shakyamuni Buddha:

"Buddhas wahrer Dharma-Körperist genau so wie der Raum.Seine Form offenbart sich den Dingen entsprechend.Er ist wie der Mond im Wasser. "

Mit dem wahren Dharma-Körper ist die umfassende Wirklichkeit gemeint, die zwar körperlich erscheint, aber weit mehr ist. Der Raum hat im Buddhismus eine doppelte Bedeutung; er ist zum einen materielles Element wie im alten Indien und zum anderen ist er bedeutungsgleich mit der Leerheit, die Nishijima Roshi als Gleichgewicht bezeichnet und die im Shôbôgenzô meist Erwachen heißt. Die Dinge der Welt offenbaren sich für den Menschen umfassend im Gleichgewicht. Wer also erwacht ist, hängt nicht mehr nur an der äußeren Form und Materie, die man sehen und berühren kann sondern geht darüber hinaus und dies sei dasselbe wie der Mond im Wasser. Das Bild des sich im Wasser spiegelnden Mondes wird mehrfach im Shobogenzo verwendet. Es hat die Bedeutung des wahren Mondes, des wahren Wassers, der Verbindung beider, ohne dass sie sich gegenseitig als Subjekt und Objekt gegenüberstehen oder gar behindern. Dôgen sagt dazu:

"Die hundert Dinge und zehntausend Phänomene verwirklichen sich so wie sie sind und sie sind Buddhas wahrer Dharma-Körper und wie der Mond im Wasser."

Dôgen geht dann auf die wirkliche Zeit des Erlebens und Erfahrens ein. Wir wissen heute, dass der Mond im Sonnensystem sich in einem genau zu berechnenden Zyklus um die Erde bewegt und dass beide wiederum um die Sonne kreisen. Diese naturwissenschaftlich exakte Angabe der Laufbahn des Mondes kannte Dôgen natürlich noch nicht. Sie entstammt dem naturwissenschaftlich materiellen Verständnis der Welt und wurde seit dem 19. Jahrhundert auch bezeichnend „Himmelsmechanik“ genannt. Man konnte zu Dôgens Zeiten natürlich die verschiedenen Phasen des Mondes genau beobachten, wie etwa die Phase des Neumondes, der abnehmende und zunehmende schmalen Sichel und des Halbmondes.

Dabei müssen aber die Gedankeninhalte und das wirkliche Erleben in der Sein-Zeit nach Dôgen klar unterschieden werden. Im Hier und Jetzt erlebt man nur je einen Mond im gegenwärtigen Augenblick und wenn man offen dafür ist, sind die Gedanken an andere Mondphasen und Formen der gesehenen Mondscheibe nur Erinnerung oder Erwartung, sie haben aber überhaupt keine wahre Erlebnisqualität der Wirklichkeit. Damit unterscheidet sich das gedachte Bild des Mondes von der wirklichen Erfahrung in der Wirklichkeit und nach Dôgen ist nur dies der wahre Mond.

Der Mond ist aber auch oft Gegenstand romantischer Schwärmerei, gefühlsbetonter Gedichte, um nicht zu sagen sentimentaler Beschreibungen. Dabei werden Ideen und Fantasien zum Mond durch Worte erzeugt, die von dem wirklichen Erleben und Erfahren unterschieden werden müssen. Dôgen sagt uns, dass wir uns derartigen romantischen Gefühlen eventuell hingeben können, wenn wir uns voll bewusst sind, dass es nicht die Wirklichkeit ist sondern nur eine romantische Vorstellung. Er betont weiterhin, dass derartige Fantasien viel weniger Schönheit und Kraft besitzen als die Wirklichkeit des Mondes selbst!

Auch Beobachtungen und Überlegungen, auf welche Weise der Mond die Dinge beleuchtet, stammen häufig aus dem Bereich des Denkens und sollten von dem unmittelbaren Erleben und der Praxis unterschieden werden. Gleiches gilt für Bezeichnungen wie "alter" oder "neuer" Mond. Hierbei werden Vergleiche gezogen und Vorstellungen eingebracht, deren es in der Wirklichkeit gar nicht bedarf. Dôgen zitiert hier einen alten Meister mit dem folgenden Gedicht:
"Geist-Mond allein und rund.Licht verschlingt Zehntausende Phänomene. Licht erleuchtet weder Dingenoch gibt es überhaupt Dinge. Licht und Dinge verschwinden beide,was ist das? "
Mit dem „Geist-Mond“ ist die ganze Wirklichkeit und Wahrheit gemeint und „allein und rund“ bedeutet, dass es vollkommen ist so wie es ist, dass nichts fehlt und nichts hinzugefügt werden kann. Dôgen sagt selbst hierzu:

"Weil (die Buddhas) diese (Einheit des Lichts mit den Dingen) verwirklicht haben, erscheinen sie sogleich mit dem Körper eines Buddhas und lehren den Dharma, wenn die Menschen durch den Körper eines Buddhas befreit werden müssen. Und sie erscheinen sogleich mit einem gewöhnlichen Körper und lehren den Dharma, wenn die Menschen durch einen gewöhnlichen Körper befreit werden müssen. "

Damit ist auf eine zentrale Aussage des Bodhisattva-Handelns verwiesen: Der helfende Bodhisattva nimmt die Form oder den Geist an, in denen er am besten helfen kann und die am besten geeignet sind, eine wirklich wirkungsvolle Hilfe zu leisten. Der Begriff "Geist" bedeutet hier nicht etwas Gedachtes, Abstraktes oder Spirituelles, sondern wird z. B. im Kapitel: "Geist hier und jetzt ist Buddha" beschrieben, bedeutet also das konkrete Handeln im Zustand des Gleichgewichts und nicht gedachte Vorstellungen, die nur im Bereich der Ideen angesiedelt sind.
Dôgen gibt anschließend ein berühmtes Gespräch zwischen einem Mönch und einem Meister wieder: Ein Mönch fragte einst den Meister:

"Wie ist der Mond, wenn er noch nicht rund ist?"
Der Meister antwortete: "Er verschlingt drei oder vier (Monde)."
Der Mönch fragte weiter: "Und nachdem er rund geworden ist?"
Der Meister sagte: "Dann speit er sieben oder acht (Monde) aus."

Dieses Koan ist bei Dôgen auch in der Sammlung von 301 Koan-Geschichten (Shinji Shôbôgenzô) enthalten und ist in der Tat zunächst recht rätselhaft. Was soll es heißen, dass der Mond drei oder vier andere Monde verschlingt und dann sieben oder acht ausspuckt? Nishijima Roshi erklärt dies folgendermaßen: Zunächst wird beschrieben, dass man durch Ideen und Ideologien die Vielfalt der Welt und Dinge fälschlich vereinfacht, also aus drei oder vier wirklichen Monden nur einen einzigen gedachten macht und auf diese Weise die Wirklichkeit verzerrt und grob vereinfacht. Wir alle kennen ideologische Menschen, die nach einem sehr einfachen Schema die Welt einteilen und bewerten. Die heutigen Soziologen würden vermutlich sagen, dass die Komplexität der Welt unsachgemäß reduziert wird und Meister Dôgen will uns davor warnen, weil natürlich durch grobe Vereinfachungen auch erhebliche Gefahren für unser Leben Entstehen können. Die Idee eines Mondes ist also nicht die Wirklichkeit selbst und unterscheidet sich so grundsätzlich von dem wirklichen Mond.

In der zweiten Aussage heißt es, dass sieben oder acht Monde ausgespieen werden. Dies bedeutet, dass man im erwachten Zustand des Gleichgewichtes seine sieben, acht oder noch mehr Ideologien wegwirft, um die Wirklichkeit selbst zu erfahren und zu erleben. Die Zahl sieben oder acht bedeutet also „sehr viele“ Ideologien und Vorstellungen, die aber der Wirklichkeit überhaupt nicht entsprechen.

Am Ende dieses kurzen, aber außerordentlich wichtigen Kapitels beschreibt Meister Dôgen das Bild, wie Wolken vor einem Mond vorbeiziehen und wir das subjektive Gefühl haben, dass sich beide bewegen, dass also der Mond sozusagen gegen die Wolke wandert. Die wesentliche Aussage hierbei ist, dass im wirklichen Leben zwei Objekte wie die Wolke und der Mond gar nicht unterschieden werden können und dass unsere Wahrnehmung und Beobachtung uns leicht einen Schein vorgaukelt, den es so in der Wirklichkeit nicht gibt.

In diesem Fall sagt uns Dôgen, dass der Beobachter, die Wolke und der Mond je im Augenblick eine Einheit bilden, dass das wirkliche Erleben ein Handeln ist und dass sich die Ideen und Illusionen von einem Mond als Wirklichkeit ablösen müssen, wenn das Gleichgewicht und das Erwachen verwirklicht sind. Er geht dann auf die Redewendung ein, dass bei einem gespaltenen Geist es "den ersten und den zweiten Mond" gibt und will damit sagen, dass derartige Unterteilungen in der Vorstellung und im Denken bestehen, aber nicht in der Wirklichkeit selbst.