Donnerstag, 27. März 2008

Das Dokument der Dharma-Nachfolge

In diesem Kapitel beschreibt Dôgen sehr genau die authentischen Dokumente der Nachfolge von einem Meister zum anderen, also die Übertragung des Dharma und schildert seine eigenen tiefen Erlebnisse, als er auf seiner Chinareise solche Urkunden mit eigenen Augen sehen konnte.

Meister Renpo Niwa, Abt von Eheiji
Die japanische Bezeichnung ist Shisho (Kap. 16), wobei Shi die Übertragung oder Nachfolge bedeutet und sho das Dokument oder die Urkunde. Die Übertragung des Dharma von dem Meister auf den Schüler hat im ostasiatischen Buddhismus eine sehr hohe Bedeutung, weil sie die lebendige Weitergabe des wahren Buddhismus beinhaltet und neben der Lehre und Theorie sowie der buddhistischen Praxis aus der Sicht von Dôgen unbedingt zum authentischen Fortbestand der Schatzkammer des wahren Dharma-Auges gehört. Zu Dôgens Zeiten war dies in Japan noch unbekannt, und auch in China gibt es diese Übertragung erst, seitdem der große indische Meister Bodhidharma, der selbst der authentischen Linie von Gautama Buddha und Nagarjuna angehört, nach China gekommen war.
In der Tradition des Sôtô in Japan wird in der Übertragungs-Zeremonie dieses Dokument vom Meister übergeben, in ihm sind alle Namen der vorangegangenen Meister bis zu Gautama Buddha verzeichnet. In der Tradition von Dôgen und Nishijima Roshi sind diese Namen in Form eines Kreises rechts herum angeordnet, wobei der letzte Nachfolger rechts unten neben dem Beginn durch Gautama Buddha steht. Alle Namen sind durch eine Linie miteinander verbunden, sodass ein fortlaufendes Band entsteht. Traditionell besteht dieses Dokument bei Nishijima Roshi nicht aus Papier, sondern aus weißer Seide. Dies berichtet auch Dôgen. Er sagt hierzu wörtlich:
"Die Buddhas geben den Dharma immer von Buddha zu Buddha weiter, die Vorfahren im Dharma geben den Dharma immer von einem Vorfahren zu seinem Nachfolger weiter. Dies ist die Erfahrung des Einsseins (mit Buddha). (Dieses Einssein) wird direkt (vom Meister auf den Schüler) weiter gegeben und deshalb ist es das höchste Erwachen."

Mit der Übertragung wird der vorherige Schüler dann selbst zum Meister und handelt und lehrt dann sozusagen auf der selben Ebene. Nishijima Roshi führt diese Zeremonie so durch, dass der Schüler dann auf seinem eigenen Sitz Platz nimmt und er zum Zeichen der Meisterübertragung diesen rechts umrundet. Dôgen hält diese lebendige Übertragung für außerordentlich wichtig, da sie das lebendige Band und das Einssein beinhaltet. Er sagt dazu:

"Wenn ihr das Siegel der Bestätigung eines Buddhas erhaltet, erwacht ihr aus euch selbst heraus, unabhängig vom Meister und ihr erwacht aus euch selbst heraus unabhängig vom Selbst."
Mit dem Selbst ist das abgegrenzte Ego gemeint, das sich im Augenblick der Übertragung öffnet und seine alte Begrenzung verliert. Dies bedeutet nicht, dass der Meister ein willenloses Objekt seiner Umgebung ist, sondern im Gegenteil, dass er im Einklang mit dem Buddha-Dharma und der Moral handelt, denkt und redet und zum Beispiel auch ohne Worte lehren kann. Wer nicht selbst die Übertragung in einer authentischen Linie erhalten hat, kann nach Dôgen den Buddha-Dharma auch nicht an einen Schüler weitergeben.
Die Übertragung ist durch das Dokument selbst durchaus materiell erfahrbar, denn es besteht aus weißer Seide und den darauf geschriebenen Namen der vorangegangenen Meister. Jeder Meister steht und handelt nach Dôgen dann für sich selbst wie "eine Chrysantheme der anderen folgt", aber das zeitliche Nacheinander hat keine wesentliche Bedeutung. Wichtig ist, dass jede einzelne Übertragung von Angesicht zu Angesicht lebendig zu der bestimmten Zeit vollzogen wird, während die lineare Zeit keine Rolle spielt. So sind die Meister der Übertragungslinien zur selben Zeit lebendig und existieren damit wirklich. Dôgen sagt hierzu:

"Wenn ihr das Einssein nicht erfahrt und nicht buddhistischer Meister seid, habt ihr weder die Weisheit eines Buddhas noch die vollkommene Verwirklichung eines Vorfahren im Dharma."

Er legt Wert darauf, dass es sich wirklich um die körperliche Anwesenheit von Angesicht zu Angesicht handelt und dass der Geist im umfassenden buddhistischen Sinne eins ist zwischen Meister und Schüler. Gleichzeitig ist der Nachfolger eins mit allen Vorfahren und mit Gautama Buddha selbst, und dies Ganze ist das verwirklichte Universum. Eine solche Übertragung von Buddha zu Buddha sei tief und ewig und ohne Rückschritt und ohne Abweichung: "Sie ist ohne Unterbrechung und ohne Ende."
Wie an vielen Stellen beschrieben wird, wurde der erste Nachfolger Mahâkâshyapa nach ostasiatischer Tradition ohne Worte zum Nachfolger, indem Gautama Buddha eine Blume hochhielt, sie leicht in der Hand bewegte und Mahâkâshyapa im tiefen Einssein lächelte, ohne dass überhaupt nur ein Wort gewechselt wurde.

Dôgen betont, dass die formgebundene Dharma-Übertragung nur ein Teil des Einsseins ist. Wäre sie nur an die materielle Form des Dokuments gebunden, dann hätte der lebendige Dharma nicht zweieinhalb Jahrtausende überdauert und wäre nicht lebendig in den verschiedenen Traditionen bis auf den heutigen Tag weiter gegeben worden.
In den buddhistischen Geschichten Ostasiens gibt es mehrere Beispiele einer bedeutenden Dharmaübertragung. Am berühmtesten ist wahrscheinlich diejenige von Bodhidharma an den zweiten Vorfahren im Dharma in China, Taiso Eka, das mit den Worten geschah:

"Du hast meine Haut, mein Fleisch, meine Knochen und mein Mark."

Dôgen betont dann noch, dass es gar nicht wesentlich ist, ob der Schüler die Übertragung erwartet oder nicht und ob er sie gesucht hat oder nicht.
Wer nur die Theorie des Buddhismus erlernt und auch wunderbar über die Sutra reden kann "als ob Blumen vom Himmel regnen", kann nach Dôgen jedoch nicht die Wahrheit des Buddhismus weiter geben, weil er sie selbst nicht besitzt. Er sagt:

"Wie bedauerlich, dass sie im Netz der Theorien gefangen sind, obwohl sie ihren menschlichen Körper als Gefäß der Wahrheit empfangen haben. Leider kennen sie nicht den Weg der Befreiung."

Die Theorie allein ist nicht in der Lage, das ´Netz´ der Ideen und Gedanken zu zerreißen und zur Wirklichkeit im Hier und Jetzt zu gelangen.
Dôgen berichtet, dass er verschiedene alte Dokumente der Nachfolge großer Meister gesehen hat, als er in den Klostern von China weilte. Er sagt dazu:

"Es war ein Augenblick tiefer spiritueller Verbundenheit mit den Buddhas und Vorfahren im Dharma, die ihre Kinder und Enkel beschützen und bewahren. Das Gefühl großer Dankbarkeit war unbeschreiblich."

Man muss wissen, dass diese Dokumente bereits damals zum Teil über dreihundert Jahre alt waren und von den verschiedenen Linien der ganz großen Meister wie Hogen, Ungan, Unmon usw. weitergegeben wurden. Dabei sind die äußerlichen Unterschiede der Dokumente in den verschiedenen Traditionen nicht von großer Bedeutung, wesentlich ist allein, dass sie über Bodhidharma, Nagarjuna direkt auf Gautama Buddha selbst zurückgehen.
Dôgen bedauert dann, dass diese wahre Übertragung bereits damals im Verfall begriffen war und sagt:

"Wie schade, dass es solche verkehrten Verhaltensweisen(zur Übertragung) in diesem korrupten Zeitalter des letzten Dharma gibt. Nicht einer von diesen Menschen hat die Wahrheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma gesehen oder erfahren, nicht einmal im Traum."

Er beschreibt dann verschiedene Tricks, wie man von einem bekannten Meister ein handschriftliches Dokument erhalten konnte, das aber nicht eine wirkliche Dharma-Übertragung war. Ein solches Dokument werde anderen gegenüber fälschlich als wahre Übertragung deklariert. Er schildert, dass einige Meister zwar unter Druck ein derartiges unwirksames Dokument der scheinbaren Nachfolge schrieben, das dieses sich aber vom Original wesentlich unterschied. Es sei damit für die Dharma-Nachfolge wertlos.
Er berichtet von seinem eigenen Meister Tendo Nyojô, der davor warnte, mit der Dharma-Nachfolge zu prahlen und sich vor anderen aufzuspielen. Das Dokument der Übertragung "zu sehen und zu hören könnte selbst schon die Erforschung der Wahrheit sein." Dôgen berichtet, dass er das große Glück hatte, selbst auf dem Berg Tendô eine solche wertvolle Urkunde zu sehen. Er schreibt:

"Als ich sie zum ersten Mal sah, war ich außer mir vor Freude. Es war eine tiefe spirituelle Botschaft der Buddhas und Vorfahren im Dharma."

Er hielt dann ein Dokument in Händen, das in Form einer Rolle von etwa drei Meter Länge aufgebaut war, in dem alle Namen bis zum letzten Meister verzeichnet waren. Er berichtet dann von einem Meister, der wenige Tage vor seiner Ankunft einen Traum hatte, dass jemand von Bord eines Schiffes kommen werde und dass es Pflaumenblüten regnen würde. Als Dôgen selbst diesem Meister begegnete, war dieser fest davon überzeugt, dass er die Gestalt des Traumes sei, die von Japan mit dem Schiff gekommen war. Der Seidenstoff war mit fallenden Pflaumenblüten gemustert, auf den die Namen der Meister geschrieben waren. Dôgen berichtet jedoch, dass er die Dharma-Nachfolge dort nicht erhielt, sondern von seinem hochverehrten Meister Tendo Nyojô. Er fügt hinzu, dass die Namen zum Teil mit dem Blut vom Meister und Schüler geschrieben waren, wie zum Beispiel bei Daikan Enô.

Dôgen zitiert am Ende des Kapitels eine Passage von seinem eigenen Lehrer Tendo Nyojô, der sich besonders mit der Bedeutung der zeitlichen Abfolge der Dharma-Übertragungen beschäftigt hatte. Es wird dabei deutlich, dass das zeitliche Nacheinander nicht das Wichtigste ist. Wir sollen die Nachfolge so verstehen, dass sowohl die legendären Buddhas, die ´zeitlich´ vor Gautama Buddha gewirkt haben, als auch die folgenden großen Meister gemeinsam und zusammen existieren. Dôgen sagt am Ende dieses Kapitels:

„Damals konnte ich, Dôgen, zum ersten Mal die Tatsache annehmen, dass die Dharmanachfolge der Buddhas und Vorfahren im Dharma wirklich existiert und ich konnte mich von einem alten Nest (von falschen Vorstellungen) befreien.“