Samstag, 5. April 2008

Die Kraft und Tugend des Kesa-Gewandes

Meister Dogen behandelt in zwei aufeinanderfolgenden Kapiteln sehr ausführlich seine Erfahrungen und seine Lehre über das buddhistische Gewand, das auf Japanisch Kesa und auf Sanskrit kashaya genannt wird.

Im Kapitel „Die Verdienste des Kesa“ (Kap. 12 Kesa kudoku) behandelt er die Besonderheiten dieses japanischen Gewandes, das nach ostasiatischer Lehre sich direkt auf Gautama Buddha zurückführen lässt und von allen Meistern in den verschiedenen Traditionen ohne Unterbrechung getragen wurde. Das darauf folgende Kapitel "Die Weitergabe des Gewandes" (Kap. 13, Den-e) ist etwas kürzer als das vorherige, hat aber im Wesentlichen den gleichen Inhalt. Nishijima Roshi sagt daher, dass das erste Kapitel die Mitschrift des Dharmavortrages von Meister Dogen war und das folgende Kapitel seine eigenen Aufzeichnungen umfasst, die er vorher niedergelegt hatte.
Wir wollen hier das erste ausführlichere Kapitel behandeln, in dem nicht nur die Bedeutung und Besonderheit des Kesa im Einzelnen wiedergegeben wird, sondern die persönlichen Erfahrungen der Erlebnisse von Dogen selbst sehr lebendig geschildert werden. Er betrachtete das Kesa keineswegs nur als formales oder auch rituelles Gewand, sondern es ist für ihn die „Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ selbst und er beschreibt sehr genau, wie man es praktisch anlegt und trägt. Damit wird ein direkter Bezug zum wirklichen Handeln im Alltag hergestellt. Das Kesa und die Essschalen (Patra) sind wesentliche Gegenstände des buddhistischen Lebens und werden auch heute in einer besonderen Zeremonie vom Meister an die Schüler übergeben. Diese Tradition lässt sich auf Gautama Buddha selbst zurückführen und entwickelt selbst eine große Kraft. Dogen ist fest davon überzeugt, dass es ein großes Glück ist, überhaupt den Buddha-Dharma und das Kesa kennenzulernen, sodass er glaubt, dass eine solche Begegnung durch verdienstvolles Handeln ermöglicht wurde. Er betont, dass es etwas ganz Besonderes ist, das Kesa von seinem eigenen Meister zu empfangen und es zu tragen. Auch Nishijima Roshi empfiehlt, das Kesa bei der Zazen-Praxis und bei Dharma-Vorträgen anzulegen.
Dogen sagt hierzu:

"Die authentische Weitergabe des Gewandes und des Dharma nach China, die unverfälscht von Buddha zu Buddha und einem Vorfahren im Dharma zum anderen erfolgte, ist allein dem großen Meister (Bodhidharma) vom Sugaku-Gipfel (zu verdanken). Er war der 28. Nachfolger im Dharma von Shakyamuni Buddha in Indien."

Dieses Gewand ist aus mehreren Streifen zusammengenäht und wird so getragen, dass die linke Schulter bedeckt ist. Die rechte Schulter bleibt frei, indem das Gewand unter der rechten Schulter hindurchgeführt wird. Es gibt verschiedene Farben für das Kesa, die meisten sind ocker, gelb oder braun, aber es ist niemals grell und auffällig gefärbt. In der Linie von Dogen zu NishijimaRoshi der Sôtô-Tradition wird das Kesa mit angenähten Kordeln und deren Schleife zusammengehalten. Wenn man dieses Gewand angelegt hat und sich zur Zazen-Praxis auf das Kissen niedergelassen hat, so entsteht in der Tat eine besondere Kraft, die für die Übungs-Praxis eine besondere Unterstützung gibt. Dogen betont mehrfach, dass die Bedeutung des Kesa nicht der Stoff, also die materielle Grundlage allein ist, sondern dass man beim Tragen die Verbindung mit den großen Meistern und Gautama Buddha selbst hat.

In der chinesischen Tradition brachte Bodhidharma sein Kesa aus Indien mit sich, als er nach China kam, und übergab dieses später an seine direkten Nachfolger, sodass sich die Kette der Weitergabe des Kesa bis in die Gegenwart hinein fortsetzte.
Der große sechste Nachfolger im Dharma in China, Daikan Enô, erhielt das Gewand von seinem Meister als er selbst noch nicht Mönch war, sondern im hinteren Teil des Klosters als Arbeiter angestellt war. Er war durch ein Dharma-Gedicht auf ihn aufmerksam geworden, das Daikan Enô nicht einmal selbst an die dafür vorgesehene Wand im Kloster geschrieben hatte, weil er nach der Überlieferung Analphabet war.

Dogen schätzt das Kesa-Gewand und dessen Weitergabe an die Nachfolger außerordentlich hoch und preist ein Land, in dem es diese lebendige Tradition des Gewandes gibt. Gerade die unmittelbare Übertragung von Angesicht zu Angesicht ist für den ostasiatischen Buddhismus von zentraler Bedeutung. Sie wird als notwendige Bedingung angesehen, dass die Buddha-Lehre lebendig und wahr ist.

Erst durch Bodhidharma kam das Kesa und die wahre Übertragung von einem Meister zum anderen nach China, während vorher zwar die buddhistische Lehre bekannt und weit verbreitet war, aber die Weitergabe des wahren Dharma unbekannt war. Wenn es in einem auch kleinen Land nach Dogen das Kesa gibt, so

"mag dies in Wahrheit besser sein als über die zahllosen Welten der drei großen-tausendfachen Welt zu herrschen. Wo könnte in dieser dreitausend großen tausendfachen Welt, in die Buddhas Einfluss hineinwirkt, das Kesa nicht gegenwärtig sein."

Er führt dann die auf einander folgenden großen Meister auf, die das Kesa, also das Gewand der buddhistischen wahren Lehre, weiter gegeben haben. Er sagt, dass das höchste Verdienst darin besteht, wenn es sich um dessen authentische Weitergabe handelt. Aber das Kesa habe auch große Kraft und Tugend, wenn es überhaupt übergeben wird. Es habe seinen großen spirituellen Wert aus sich selbst. Selbstverständlich kann es nicht nur von ordinierten Mönchen und Nonnen, sondern auch von Laien empfangen, getragen und bewahrt werden.
Die hohe Bedeutung wird von Dogen wie folgt ausgedrückt:

"Wenn die Buddhas die Wahrheit verwirklichen, tragen sie immer das Kesa. Denkt daran, dass dies das höchste und erhabenste Verdienst ist."

Er verbindet damit das Erlangen der Wahrheit und das Erwachen mit dem Gewand des Kesa und auch Nishijima Roshi empfiehlt das Kesa vor allem bei der Zazen-Praxis anzulegen.
Dogen sagt wörtlich:

"In der Tat sind wir in diesem weit abgelegenen Land (Japan) im Zeitalter des Niedergangs geboren und wir sollten es bedauern. Gerade deswegen sollten wir uns glücklich schätzen, dem Dharma-Gewand begegnet zu sein, das authentisch von einem Buddha zu einem anderen weiter gegeben und von einem Nachfolger zum anderen übermittelt wurde."

Er hebt dann die Besonderheit des Kesa hervor, die nur in dieser Form in den buddhistischen Traditionen weiter gegeben werde, während es in anderen religiösen Linien in dieser Form und Bedeutung nicht gäbe. Dass es sich in einer nicht unterbrochenen Kette bis auf Gautama Buddha selbst rückführen lässt, entwickelt nach Dogen eine besondere Kraft, die er außerordentlich schätzt. Die Verehrung des Gewandes wird vor allem dadurch ausgedrückt, dass man es in gefalteter Form vor der Zazenpraxis auf sein Haupt legt. Die Kraft des Kesa ist nach Dogen wirksam, obgleich Gautama Buddha viele tausend Kilometer entfernt in Indien lebte, weil Bodhidharma es persönlich nach China brachte und damit die große Blüte des Buddhismus in China einleitete.

Dogen sagt weiter:
"Ist es möglich, dass diese Praxis nur das Verdienst eines Buddhas oder zweier ist? Vielmehr mögen die mannigfaltigen Verdienste (dieser Praxis) von so vielen Buddhas erlernt und geübt worden sein wie es Sandkörner am Ganges gibt."

Er macht damit deutlich, dass wir die Vorstellungen an bestimmte Personen übersteigen sollten um "zu verstehen", was es mit dem Kesa wirklich auf sich hat. Er sagt:

"Ihr solltet die tiefe Güte des großen Vorfahren im Dharma (Bodhidharma), der den Dharma weitergab, dankbar erwidern. Sogar die Tiere erwidern Zuneigung. Wie wäre es möglich, dass die Menschen eine solche Güte nicht erkennen. Wir wären beschränkter als die Tiere, wenn wir sie nicht erkennen würden. ...Selbst nach hunderten, tausenden, zehntausenden von Generationen sollte diese authentische Weitergabe als wahr erkannt und geschätzt werden. Sie ist wohl der Buddhadharma selbst und seine Echtheit wird sich im Laufe (der Zeit) sicherlich immer wieder bestätigen."

Dogen betont anschließend, dass die Kraft und das Verdienst des Kesa im Laufe der Zeit nicht weniger wird, sich also nicht verdünnt, wie man z. B. Milch mit Wasser verdünnt. Dies gilt auch, wenn das Kesa von einem Meister an einen "mittelmäßigen" Schüler übergeben wird.
Dogen sagt hierzu:


"Als der Tathagata Shakyamuni in seiner Güte den Schatz des wahren Dharma-Auges und das höchste Erwachen an Mahakashyapa weitergab, gab er diese zusammen mit dem Kesa weiter. So wurde das Gewand von einem rechtmäßigen Nachfolger zum anderen bis zum Meister Daikan Enô vom Berg Sokei weitergegeben. Dies war die dreiundreißigste Generation."

Er beschreibt dann im Einzelnen, dass es verschiedene Formen des Kesa gibt und dass man diese je nach Anlass und Jahreszeit auch übereinander tragen kann. So gibt es das Kesa mit fünf oder sieben Streifen und außerdem eine große Kesa, die im Winter getragen wird.
Es wird dann berichtet, dass es die Theorielehrer des Buddhismus und die Experten der Sûtra in China gegeben habe, die erkannten, dass die Lehre allein unzureichend ist und die deshalb das Kesa empfangen und getragen haben und anfingen Zazen zu praktizieren. Damit haben sie die Schwelle zum wahren Buddha-Dharma überschritten und konnten in die wirkliche Lehre eintreten. Dogen sagt:

"Damit legten sie ihre wertlosen früheren Gewänder ab und empfingen und bewahrten das authentisch weitergebende Kesa der Buddhas und Vorfahren im Dharma."

Er betont, dass hierdurch auch die wahre Verbindung zur buddhistischen Lehre hergestellt wird und dass eigenständige Irrlehren im Buddhismus, die es auch im damaligen China gab, vermieden werden. Das Kesa ist damit das Bindeglied zum wahren Dharma. Subjektive und eigenständige Theorien von angeblichen Meistern werden damit überflüssig und die authentische Übertragungslinie garantiert. Das Kesa sollte auch nicht irgendwelchem modischen Zeitgeschmack unterworfen werden, um aufzufallen und auf Dritte großen Eindruck zu machen.

Auch Nishijima Roshi betont die Bedeutung der unverfälschten Tradition, die von Meister Dogen in aller Klarheit beschrieben wird und die durch das Kesa einen besonders klaren Ausdruck erhält. Dieses authentisch weitergegebene Kesa sei das wahre traditionelle Gewand der Kinder und Enkel von Gautama Buddha.
Dogen unterstreicht die Bedeutung dieses Gewandes dadurch, dass man sofort an dessen Kraft teilhat, wenn man seinen Körper nur einmal damit bedeckt. Dies auch, wenn es nur für einen Bruchteil eines Augenblicks geschieht. Er sagt wörtlich:

"So ist das Kesa kein von Menschenhand 'angefertigtes' oder 'nicht angefertigtes' Produkt. Es gibt auch keinen Ort, wo es 'existiert' oder 'nicht existiert'. Nur die Buddhas zusammen mit den Buddhas können das Kesa vollkommen verwirklichen."

Er schreibt diesem Gewand eine fast mystische Bedeutung auf dem Buddhaweg zu, die weit über die üblichen Begriffe wie existent oder nicht und angefertigt oder nicht hinausgehen. Damit wäre nur die Ebene der Ideen und des Materiellen angesprochen. Beides kann die Bedeutung des Kesa jedoch nicht vollständig erfassen. Es werden dann verschiedene Bezeichnungen für das Kesa, die zu Zeiten Dogens üblich waren, aufgeführt: Gewand der Befreiung, Gewand der Beglückung, Gewand ohne Form, höchstes Gewand, Gewand der Geduldsamkeit, Gewand des Tathagata, Gewand der großen Güte und des großen Mitgefühls und das Gewand, das die Fahne der Vortrefflichkeit ist. Das Kesa sollte auf diese Weise übermittelt, getragen und bewahrt werden und es sollte nicht willkürlich verändert werden.
Dogen kritisiert damit Menschen, die diese Wahrheit des Kesa nicht anerkennen wollen und die authentische Weitergabe für wirkungslos halten. Er spricht dabei von Selbstgefälligkeit und Mangel an Vertrauen und sagt:

"Sie verwerfen das Wirkliche und jagen Vergänglichem nach, sie reißen die Wurzel aus und suchen dann nach den Zweigen."

Dogen berichtet die bekannte Geschichte einer Nonne (Utpalavarna), die zum Spaß das Kesa anlegte, als sie in einem Leben Prostituierte war und überhaupt nicht an die Kraft dieses Gewandes glaubte. In der Geschichte, die noch im alten Indien spielte, entfaltete das Kesa dann eine neue große Kraft in ihrem Leben, die sie von Grund auf veränderte. Sie hatte zum ersten Mal einen unmittelbaren Kontakt zum Buddha-Dharma gewonnen, der sich im Folgenden äußerst positiv auf sie auswirkte. Es wird berichtet, dass sie im nächsten Leben Nonne wurde und versuchte lebenslustige und leichtfertige Damen der Gesellschaft davon zu überzeugen, dass sie ihr bisheriges oberflächliches und genusssüchtiges Leben aufgeben und die Gelübde einer Nonne ablegen sollten.

Die jungen Damen antworteten aber darauf, dass sie diese Gelübde nicht ablegen könnten, weil sie diese mit großer Wahrscheinlichkeit brechen würden und dann in die Hölle müssten. Dies ist in der Tat eine eigenartige Argumentation, denn es geht ja um das Handeln selbst und nicht nur darum, ob man die Gelübde immer einhält. Wichtig sei aber, dass man an der Kraft des Kesa teilhat. Dogen zitiert die Nonne wie folgt:

"Wenn ich nur Unrecht getan und ohne die direkte und indirekte Wirkung (des Kesa) sowie die Gebote nicht empfangen hätte, dann hätte ich die Wahrheit niemals erlangen können. Ich wäre ein Leben nach dem anderen in die Hölle gekommen. Wieder aus der Hölle herausgekommen, hätte ich erneut Unrecht getan."

Dogen lässt keinen Zweifel daran, dass er an diese Geschichte und an die Kraft des Gewandes glaubt, die sogar wirksam ist, wenn eine Prostituierte zum Scherz und aus Vergnügen das Kesa anlegt.
Es wird dann noch einmal verdeutlicht, dass das Kesa auch von Laien empfangen und getragen wird und dass es nicht auf Mönche und Nonnen beschränkt ist. Dies sei eine Besonderheit des Mahayana und von großer Bedeutung, denn auch Könige und der berühmte Prinz Shotoku in Japan haben das Kesa erhalten und bewahrt. Dieser habe sogar das Wort "Kesa" in Japan eingeführt, sodass das Gewand konkret gesehen und das Wort gehört werden könne.

Am Ende des Kapitels wird beschrieben, dass im alten Indien das Kesa aus alten Stoffen hergestellt wurde, die von anderen weggeworfen wurden. Es wird beschrieben, dass man diese verschmutzten und herum liegen Stoffe prüfen solle, ob sie löcherig und abgeschabt sind, sodass sie nicht mehr gereinigt und verwendet werden können. Man solle dann die guten Teile abtrennen und reinigen. Daraus kann das Kesa zusammengenäht werden. Dieser Vorgang wird als Gleichnis aus dem Agama Sûtra für den Umgang mit anderen Menschen zitiert:

"Wenn das körperliche Verhalten der Menschen in gleicher Weise unrein ist, sein Reden und sein Geist aber rein, dann achtet (der Weise) nicht auf sein körperliches Verhalten, sondern beachtet nur die Reinheit seiner Worte und seines Geistes. Der Weise der über das, was er sieht, in Zorn gerät, kann sich auf diese Art davon befreien."

Es wird dann weiter ausgeführt, dass auch das Umgekehrte gilt, wenn das Reden und der Geist unrein sind, das Verhalten aber rein. Dann solle man auf das Reine achten und es ansprechen und nicht das Unreine. Man könne also wie bei einem alten Stoff das Gute aussondern, reinigen und verwenden und in ähnlicher Weise bei einem Menschen die positiven Bereiche verstärken und unterstützen.
Dogen berichtet von einem eigenen Erlebnis, dass in China bei der Zazen-Praxis ein chinesischer Mönch neben ihm saß, der sein Kesa vor der Praxis auf sein Haupt legte und das folgende Gedicht sagte.

„Wie großartig ist das Gewand der Befreiung
Ohne Form, Feld des Glücks, Robe!
Voll Glauben die Lehren des Tathagata tragen.
Umfassend will ich die Lebewesen retten.“


Er berichtet, dass ihn dies tief berührte und dass "unbemerkt Tränen der Ergriffenheit (über mein Gesicht) liefen und mein Kragen feucht wurde." Er hätte im Agama-Sûtra zwar schon von diesem Brauch gelesen, aber ihn bis dahin niemals in der Wirklichkeit erlebt. Er nahm sich damals fest vor, diesen Brauch auch in Japan einzuführen, weil es ihn dort noch nicht gegeben hatte und in der Tat wird diese Tradition auch heute gepflegt.
Am Ende es Kapitels sagt er:

"Wir dürfen uns wirklich glücklich schätzen, dass wir das Gewand Buddhas ehrerbietig auf unser Haupt legen und uns lösen können von Göttern, Geistern, Königen und Ministern, denen wir gedient haben, um vergänglichen Ruhm und Gewinn zu ernten."