Freitag, 23. Mai 2008

Das umfassende Erforschen der buddhistischen Lehre und Praxis



Das Kloster Tokei in


Dieses Kapitel (Kap. 62) hat die japanische Bezeichnung Hensan. Hen bedeutet ´umfassend, überall und weit´, und san heißt wörtlich ´besichtigen oder aufsuchen´. Damit wird an die Tradition angeknüpft, dass die Mönche und Nonnen im alten China bisweilen von einem Kloster zum anderen wanderten, um die buddhistische Lehre bei verschiedenen Meistern und in anderen Umgebungen zu studieren und zu erlernen.

Dôgen warnt jedoch davor, dass sich buddhistische Wanderungen entwickeln könnten, die nicht genug in die Tiefe gehen. Er betont die Wichtigkeit, die Praxis und Lehre bei einem guten Meister gründlich zu erlernen und nachhaltig zu praktizieren. Es sei nicht unbedingt sinnvoll, zu vielen verschiedenen Meistern zu wandern, wenn man seinen eigenen wahren Lehrer gefunden habe. Diese Warnung ist sicher auch heute von großer Bedeutung, denn wenn man bei vielen Lehrern nur ein bisschen studiert und praktiziert, kann man nicht in den umfassenden Buddha-Dharma eindringen und sein eigenes Leben gründlich verändern. Dann kann man keinen neuen Weg finden, um die eigenen alten Probleme wirklich aufzulösen. Das ist in der Tat die nicht selten anzutreffende Form des modernen ´buddhistischen Tourismus´.
Am Anfang des Kapitels sagt Dôgen:

"Die große Wahrheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist das durch und durch umfassende Erforschen des Höchsten. Es verwirklicht sich, wenn alle Hindernisse überwunden sind und sich ungeahnte Kräfte offenbaren. Wenn dies (wirklich) so ist, öffnen sich die Blüten und die konkrete Welt entsteht."

Er sagt damit, dass der höchste Zustand des Erwachens durch fortwährendes Lernen und Erforschen erlangt wird, das zusammen mit der buddhistischen Übungspraxis unverzichtbar ist. Interessant ist die Analogie zur modernen jetzigen Zeit, wo ein lebenslanges Lernen im Beruf wegen der sich verändernden Lebensumstände gefordert wird. Sicher gibt es beim Menschen die Kräfte des Verharrens, die genau dieses Lernen und Erforschen während des ganzen Lebens beeinträchtigen oder sogar hindern. In dem Kapitel "Die Weiterentwicklung jenseits der Erleuchtung" sagt Dôgen, dass auch nach dem Erlangen des höchsten Zustandes eine dauernde Weiterentwicklung notwendig ist, dass man immer weiter forscht und vertieft, um die großartige buddhistische Lehre immer besser zu ´verstehen´. Wichtig für diesen höchsten Zustand ist die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber und das moralisch richtige und klare Handeln gegenüber anderen. Dabei sollten wir nicht nur die schöne Seite des Lebens, oder wie Dôgen sagt, die „süße Melone“, sondern auch die dunkle Seite nämlich den „bitteren Kürbis“ unverstellt und jeweils tiefgründig erfahren und erforschen, weil sonst die Wirklichkeit und Wahrheit einseitig idealisiert wird.

Dôgen zitiert dann ein berühmtes Koan-Gespräch zwischen Meister Seppo und seinem großen Schüler Meister Gensa. Seppo fragte diesen:

"Du Asket (Gensa), warum gehst du nicht fort, um die Wahrheit umfassender zu erforschen?"

Meister Gensa antwortete:

"Bodhidharma kam nicht ins östliche Land und der zweite Vorfahre im Dharma ging nicht zum westlichen Himmel."

Diese Aussage wurde von Seppo vollständig bestätigt.
Was bedeutet nun das zunächst paradox erscheinende Koan? Denn wir wissen historisch, dass Bodhidharma vom Westen kam und in China als erster authentischer Nachfolger von Gautama Buddha den wahren Buddhismus einführte und an seinen Nachfolger, den zweiten Vorfahren im Dharma, weiter gab. Dieser blieb allerdings wirklich in China und reiste nicht nach Indien. Dies hätte im buddhistischen Sinne keinen Sinn gemacht, weil er den wahren Dharma ja bereits von seinem eigenen Lehrer authentisch erlernte und übernahm. Meister Gensa ist bekannt für sehr prägnante, treffende Aussagen. Er versuchte immer zum Kern der Wirklichkeit vorzudringen und sich nicht in herkömmlichen Vorstellungen zu verlieren, und seien sie noch so ´edel oder heilig´.

Die Aussage, dass der Nachfolger und zweite Vorfahre im Dharma, Taiso Eka in China blieb und nicht umherwanderte, nachdem er in Bodhidharma seinen wahren Meister gefunden hatte, entspricht zweifellos dem Tenor dieses Kapitels. Warum sollte man umherreisen, wenn man seinen eigenen wahren Lehrer gefunden hat? Was bedeutet aber, dass Bodhidharma nicht aus Indien kam? Dies kann man sicher so verstehen, dass dessen geografische Herkunft und sein Wandern keine große Bedeutung haben, sondern dass die lebendige buddhistische Lehre in China die Wahrheit und Wirklichkeit im Hier und Jetzt ist. Woher der Meister gekommen ist, gehört der Ebene des Denkens und der Vorstellungen an und sagt eigentlich wenig über die authentische Lehre und Praxis selbst aus, die durch ihn nachher großartig in China aufblühte und viele wunderbare Meister hervorbrachte.

Dôgen berichtet die Geschichte des Meisters Nangaku, der Schüler des großen Meisters Daikan Enô wurde und etwa fünfzehn Jahre unter ihm lernte und sich entwickelte. Sein Lehrer hatte ihn bei der Ankunft gefragt:

"Was ist es, das so gekommen ist?" Er wusste zunächst nicht darauf zu antworten und beschäftigte sich mit dieser Koan-Frage intensiv acht Jahre lang. Danach antwortete Nangaku seinem Meister:

"Etwas mit Worten zu erklären trifft nicht den Kern der Sache".

Dieser fragte ihn darauf: "Stützt du dich auf die Praxis und Erfahrung oder nicht?"
Nangaku
antwortete: "Es gibt die Praxis und es gibt die Erfahrung, aber wenn sie nicht rein sind, kann man sie nicht verwirklichen."

Daikan Enô fügte hinzu: "Ich bin so und du bist auch so und die Buddhas und Vorfahren in Indien waren ebenso."

In dieser berühmten Koan-Geschichte werden die zentralen Eckpunkte der buddhistischen Lehre angesprochen. Zunächst wird klargestellt, dass ein Mensch niemals mit Denken und Worten vollständig ´verstanden´ werden kann, denn auch "der Geist kann nicht erfasst werden." Dieses wirklich zu erfahren und zu erforschen und nicht unbedacht daherzusagen, erforderte beim Schüler Nangaku acht Jahre des Lernens, Forschens und der intensiven Praxis im Alltag. Danach ging es um die Übungspraxis des Zazen selbst und um die Einheit von Erfahrung und Praxis.

Dies sind die Kernaussagen des Zazen, dass nämlich je im Augenblick die Wirklichkeit, das Gleichgewicht und die Erleuchtung mit der Wahrheit des Universums zusammenfallen. Wesentlich für diese buddhistische Wahrheit ist die Übereinstimmung des Denkens und Handelns mit Moral, oder wie es bei Dôgen heißt, dass die „Reinheit und diese Wahrheit niemals beschmutzt und verunreinigt werden können“. Dies gilt auch, wenn wir in der realen Welt immer wieder unmoralisches Handeln und verbrecherisches Tun beobachten oder sogar erfahren müssen.

Dôgen warnt dann davor, dass man in ein Kloster eintritt und die buddhistische Lehre nur oberflächlich übernimmt und sie nicht gründlich erforscht. Es geht darum, dass man "das ganze Auge erfährt, das alle Sichtweisen umfasst. Dies bedeutet das Höchste im konkreten Tun und Handeln zu verwirklichen." Man kann das nicht in kurzer Zeit und ohne intensive Bemühungen verwirklichen. Im Grunde ist es dabei unwichtig, an welchem Ort, in welchem Kloster oder in welchem Zusammenhang dies geschieht. Allerdings ist ein wahrer Lehrer dabei von großer Bedeutung.
Im Verhältnis zu dieser konkreten Praxis des Buddha-Weges ist in der Tat die Frage, ob Bodhidharma aus Indien kam, eher theoretischer Natur und weniger wichtig und man kann sie eigentlich fast beliebig mit Ja oder Nein beantworten. Die lebendige Lehre und Praxis in einem Kloster zu erlernen, ist die wesentliche Aufgabe des Schülers, und dabei ist nicht zuletzt der direkte Kontakt mit dem Meister wesentlich. Aus demselben Grund wäre es sinnlos gewesen, wenn der Nachfolger von Bodhidharma, Meister Taiso Eka, nach Indien gereist wäre, denn die wahre Lehre hatte er von seinem eigenen Meister erlernt und mehr konnte er nicht erfahren und erforschen. Dôgen sagt dazu:


"Er ging nicht zum westlichen Himmel, weil er direkt in (Bodhidharmas) blaue Augen hineingesprungen ist."


Er will damit sagen, dass die lebendige Beziehung zwischen Lehrer und Schüler maßgeblich ist und nicht wo und in welchem Land der Lernprozess stattfindet. Ob man viele Hunderte von Orten aufsucht, um nach der Wahrheit zu suchen, ist wirklich unwesentlich. Entscheidend ist, dass man sich auf den Weg macht, einen wahren Lehrer findet und dann intensiv lernt, praktiziert und die buddhistische Lehre erforscht.


Nach Dôgen begegnet man durch einen wahren Lehrer dann direkt Shakyamuni Buddha. Damit begegnet man sich zum ersten Mal wirklich selbst und man kann anderen Menschen wahrhaft begegnen. Dies findet in einem Augenblick unmittelbar und wahrhaftig statt, denn nach der Lehre von Dôgen und Nishijima Roshi ist man dann je in der Gegenwart, in der Wirklichkeit und in der Einheit mit dem Universum. So erfährt man nach Dôgen sich selbst, die Welt, den Meister und erfährt die anderen Menschen. Er sagt, wenn dies nicht im gegenwärtigen Augenblick geschieht, kann man weder sich selbst noch die Welt wirklich erfahren. Er erläutert dann:


"Wenn dieses Erfahren und Erforschen aber nicht unmittelbar im Jetzt stattfindet, ist es unmöglich, …das Tun und Handeln zu erfahren, ist es unmöglich das Buddha-Auge zu erfahren und es ist es ist unmöglich, euer Selbst zu fischen."


Damit nimmt er Bezug auf Meister Gensa, der zunächst Fischer war, bevor er sich auf den Weg des Buddha-Dharma begab.
Gegen Ende des Kapitels zitiert Dôgen seinen eigenen Meister Tendô Nyojô mit einem Gedicht:


"Die große Wahrheit ist ohne Tor, sie springt über eure menschlichen Gehirne hinaus" und weiter: "Wenn ein großer Meister sich überschlägt, tanzt er mit dem Herbstwind, die Aprikosenblüten fallen erstaunt herab und fliegen im scharlachroten Durcheinander."


Damit wird die Begrenztheit des Denkens angesprochen, sodass man "über die Gehirne hinaus springen" muss. Es hat auch keinen Sinn, die Lehre lediglich theoretisch aufzunehmen und wiederzugeben und sozusagen auswendig zu lernen. Vielmehr ist es das lebendige Leben selbst, wenn "der Meister mit dem Herbstwind tanzt und die wunderbaren Blüten fallen und durcheinander wirbeln."
Am Ende kommt Dôgen auf die Zazen-Praxis zu sprechen und sagt:


"Das umfassende Erforschen bedeutet nur zu sitzen und dabei Körper und Geist fallen zu lassen. Den ganzen Körper umfassend zu erforschen bedeutet, dass euer Kommen nichts anderes ist, als jetzt hierher zu kommen."


Wenn man also "aus dem Gehirn herausspringt" eröffnet sich die Wahrheit der Zazen-Praxis, in der man alle Gedanken und Gefühle fallen lässt. Man sitzt in geistiger Klarheit im Gleichgewicht und "denkt aus dem Nichtdenken." Nishijima Roshi betont, dass man daher die Zazen-Praxis nicht als Meditation bezeichnen sollte, weil man sich nicht auf irgendetwas Bestimmtes konzentriert und nicht das eigene Denken anstrengt, um ein Problem, ein Paradox oder eine Frage zu lösen.


Diese Praxis des Shikantaza strahlt nach Dôgen in das ganze Leben der Menschen, so wie der Klang einer Glocke nach dem Anschlagen fortdauert und damit seine eigentliche Kraft erst entwickelt. Eine solche Praxis vollzieht sich unmittelbar, "dass kein Haar dazwischen passt." Sie basiert auf der buddhistischen Lehre, geht aber über die theoretische Lehre hinaus zum eigenen Erfahren, Erforschen und Erleben. Dann „überschreiten wir das gewöhnliche Dasein und Handeln des Menschen wie (ein Kürbis über sein übliches Dasein als) Kürbis hinausspringt“