Dienstag, 2. September 2008

Lieber Yudo,

warum haben die alten Meister früher immer mit dem Gefühl des Schmerzes, der dann in Erkenntnis übergeht, gearbeitet? Kann man aus Freude keine Erkenntnis gewinnen?

Gruß Regina
1. September 2008 03:36


Liebe Regina,

vielen Dank für Deine wichtige Frage. Manchmal werden im Buddhismus in der Tat das Leiden und der Schmerz zu sehr betont und als Voraussetzung für wesentliche Erkenntniss dargestellt. Ich halte das nicht für richtig, denn die zentrale Botschaft von Buddha ist gerade, dass es das Leiden in der Welt zwar gibt, aber dass es überwunden werden kann. Es bedarf dazu für uns nicht der schmerzvollen Askese. Gerade die Freude kann große Energien freisetzen, um Wesentliches im Leben zu erlernen und zu erfahren. Dazu muss man sich aber der Wirklichkeit stellen, so wie sie ist. Nishijima Roshi ist einer der glücklichsten Menschen, dem ich jemals begegnet bin.
Zum Shobogenzo habe ich dazu einen Teil des Kapitels 50 über das Lotos-Sutra herauskopiert, das ich im Folgenden eingefügt habe. Das ist die klare Antwort von Meister Dogen zu Deiner Frage:

"Die wirkliche Form aller Dharmas ( Shohô jissô)"

Meister Dôgen baute seine buddhistische Lehre wesentlich auf dem Lotos-Sûtra auf, dem er im Gegensatz zum landläufigen Verständnis eine neue Bedeutung und Tiefenschärfe gab. In dem Kapitel, „Die Dharma Blume dreht die Blume des Dharma“ (Hokke ten Hokke ) und in diesem Kapitel ist es ihm in großartiger Weise gelungen, die Wirklichkeit und das Universum selbst in Worte zu fassen, soweit dies überhaupt möglich ist. Zweifellos hatte er damit einen inneren Widerspruch zu bewältigen, weil die Wirklichkeit und Wahrheit selbst nicht erschöpfend mit Worten beschrieben werden kann, da sie über Beschreibungen hinausgehen.

Aber der verbale Ausdruck ist andererseits unbedingt notwendig, um den Buddha Dharma lehren und übermitteln zu können. In dem Kapitel Hokke ten Hokke wird vor allem die Großartigkeit und Schönheit des Universums beschrieben und gesagt, dass die

Wirklichkeit dieser Welt einer wunderbaren Lotos-Blume gleicht.

Diese dreht sich und ist in dauernder Bewegung, also keinesfalls statisch und festgelegt. In diesem Kapitel wird die Wirklichkeit umfassend in einem gewaltigen Wurf beschrieben und gleichzeitig heraus gearbeitet, was Dôgen unter Dharma versteht. Dieser Begriff ist für das westliche Denken nicht einfach zu fassen, denn der Dharma bedeutet sowohl die Wirklichkeit des Lebens und Universums selbst als auch die buddhistische Lehre.

Damit wird die Identität beider hervorgehoben. In der westlichen Philosophie ist im Allgemeinen das Denken von der Wirklichkeit getrennt und beschreibt eine eigene Welt. Nishijima Roshi nennt eine solche theoretische Lehre Idealismus, deren bedeutendste Vertreter sicher Plato und Hegel sind.

Die Dharmas werden wie in diesem Kapitel häufig in der Pluralform verwendet und bedeuten dann die einzelnen Dinge und Phänomene der Wirklichkeit, also die unendliche Vielfalt der Welt und des Lebens. Seit einiger Zeit wird dies auch die „unendliche Komplexität“ genannt. Dazu gehören materielle Dinge, äußere Formen aber auch Gedanken, Bilder und Ideen. Darüber hinaus bezeichnet der Begriff Dharmas den Sinn, die Bedeutungen und die Bewertungen der Phänomene. Diese würden wir heute überwiegend dem psychischem Bereich oder der Seele zuordnen. Es geht dabei immer um die konkrete Vielfalt der Wirklichkeit
Der japanische Titel dieses Kapitels enthält das Wort Sho, das Vielfalt, Alles und Vielfältiges bedeutet. Der Begriff bedeutet die Dharmas, also sowohl physische Dinge als auch geistige Phänomene; jitsu bedeutet wirklich und real und das Wort bedeutet die Form. Daher lautet die Übersetzung des Titels: „Alle Dinge und Phänomene sind wirkliche Formen.“ Diese wirklichen Formen gehen über die Sichtweise der Materialisten hinaus, die nur das rein Materielle und die äußere Form als Wirklichkeit anerkennen und damit nur einen Teil der buddhistischen Realität erfassen können.

Im Buddha-Dharma wird das Handeln, der Augenblick und der höchste Zustand des Erwachens, der alle Lebens-Dimensionen umfasst und gleichzeitig übersteigt als große Wirklichkeit in der Welt verstanden und gelebt.

Dôgen beschreibt dies in einem anderen großartigen Kapitel über die Verwirklichung des Universums, der Welt und des Menschen (Kap. 3 Genjo koan ). Hier entwirft er eine groß angelegte Gesamtlehre des Buddhismus und der Wirklichkeit auf der Grundlage des neu von ihm gedeuteten Lotos-Sûtra.
Viele verstehen dieses Sûtra als die Beschreibung einer wunderbaren, idealen Welt, also z. B. des Nirvana, die aus Edelsteinen, Gold, Silber, Blumen, wunderbaren Düften, schöner Musik und prachtvollen Farben besteht. Man könnte daher glauben, dass es sich um eine idealisierte Welt ohne Hässlichkeit, Böses, ohne Abgründe, ohne Verbrechen und ohne Betrug handelt und dass diese der „bösen“ Realität gegenübergestellt wird. Dôgen versteht das Lotos-Sûtra grundlegend anders:

Er sagt, dass die Wirklichkeit hier und jetzt selbst von wunderbarer Schönheit und Ausgeglichenheit ist, und dass der höchste Zustand des Erwachens, also die Erleuchtung jedem zugänglich ist.

Damit sind die Beschreibungen im Lotos-Sûtra keine verklärten Bilder eines jenseitigen Paradieses und einer anderen idealen gedachten und erträumten Welt, sondern sie sind die in Worte gefassten Gleichnisse unsere Wirklichkeit, unseres Universums und eigenen Lebens im Hier und Jetzt. In einer solchen Realität wird der Gegensatz von äußerer Form und innerem Sinn aufgehoben, denn dieser besteht nur im Denken und bei theoretischen Überlegungen. Dôgen setzt die wirkliche Form mit den Dharmas, also der Vielfalt der Welt gleich.

Er beschreibt alle Dharmas als Form, Natur, Körper, Geist, Welt, Wolken und Regen und sagt dazu: “so wie sie sind“. Diese sind gleichzeitig auch Handeln: Gehen, Stehen, Sitzen und sich Niederlegen, so wie dieses Handeln ist. Auch Sorge und Freude, Bewegung und Ruhe sind die wirklichen Dharmas, wie sie sind. Weiterhin gehören dazu die Gegenstände der buddhistischen Zeremonien, nämlich der Zen-Stab und der Fliegenwedel und zwar genauso, wie sie sind. Dôgen zählt dazu auch die sich drehenden Blume, das lächelnde Gesicht, die Weitergabe des Dharma, sowie dessen Bestätigung zu den Dharmas, so wie sie sind. Er erwähnt weiterhin das Lernen in der Praxis und das Streben nach der Wahrheit, genauso wie sie sind. Schließlich fügt er die Dauerhaftigkeit der Pinien und die Reinheit des Bambus, so wie sie sind, hinzu.

Er beschreibt also Dinge und materielle Gegebenheiten, Handlungen, psychische Bereiche wie Sorgen und Freude als die Wirklichkeit der Dharmas. Außerdem nennt er die Gegenstände der buddhistischen täglichen Zeremonien, aber auch die übermittelten Wahrheiten des Buddha Dharma wie die sich drehende Dharma-Blume und das lächelnde Gesicht der Menschen. Das Streben und die Suche nach der Wahrheit, sowie das praktische Lernen und Studieren der buddhistischen Lehre sind genauso enthalten, wie die wunderbare Natur der Pinien und des Bambus. Psychische Phänomene und der Sinn des Lebens haben bei Dôgen die unbestrittene Qualität der Wirklichkeit und dies unterscheidet sich fundamental von dem Lebensverständnis der Materialisten.
Dôgen zitiert dann Shakyamuni Buddha aus dem Lotos-Sûtra:

„ Die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas können direkt vollkommen verwirklichen, dass alle Dharmas wirkliche Formen sind. Was „alle Dharmas“ genannt wird, sind Formen wie sie sind, die Natur wie sie ist, der Körper wie er ist, die Energie wie sie ist, das Handeln wie es ist, die Ursachen wie sie sind, die Bedingungen wie sie sind, die Wirkungen wie sie sind, die Ergebnisse wie sie sind und der höchste Zustand des Gleichgewichts, des Wesentlichen und der Einzelheiten wie sie sind.“

Die Formulierung: „Wie es ist“ oder „Wie sie sind“ stellt den direkten Bezug zur Wirklichkeit her und geht über Worte und Denken der Lehre hinaus. Dôgen zeigt mit seinen Worten also direkt auf diese Wirklichkeit. Nach seinem Verständnis und seiner Erfahrung handelt das Lotos-Sûtra nicht von Theorie und idealisierten Welten, sondern von der Wirklichkeit selbst, die von unglaublicher Schönheit und Vielfalt ist, wenn man sie sehen kann, wie sie ist.

Nach Dôgen äußert sich der höchste Zustand des Erwachens und des Gleichgewichts als Offenbarung und Ausdruck der wahren Natur der Dharmas. Sie sind dann ohne Verzerrungen und Verkürzungen als wirkliche Form klar intuitiv erfassbar. Dabei wird nichts weggelassen und nichts hinzugefügt. Alles geschieht darüber hinaus im vollständigen Gleichgewicht und dem Lernen in der Praxis.

Herzlich
Yudo