Freitag, 2. Oktober 2009

Das große Retreat der Sommer-Praxis (Ango), Teil 1

In Indien dauert die Regenzeit im Sommer etwa drei Monate, also 90 Tage, und zu Gautama Buddhas Zeiten war es dann kaum möglich, von einem Ort zum anderen zu wandern, weil die meist unbefestigten Straßen und Wege aufgeweicht und unpassierbar waren. Deshalb hielt sich Buddha während dieser Periode mit einigen seiner vertrauten Schüler an einem bestimmten Ort auf. Dort wurden kleine Hütten gebaut, die Schutz boten und den Regen einigermaßen abhielten, sowie eine größere, einfach konstruierte Vortragshalle mit einem festen Dach, das man gewöhnlich aus Schilf oder Bananenblättern herstellte. In dieser Zeit der intensiven Übungspraxis hielt Buddha auch viele seiner später aufgezeichneten berühmten Dharma-Reden.

Damals existierten noch keine festen Klöster, wohin sich die Meister und Lehrer zurückziehen konnten. Die Mönche hießen „Hauslose“ und wanderten umher oder sammelten sich um einen Meister. Die dreimonatige Pause auf ihren Wanderungen war demnach vor allem durch die schwierigen Witterungsbedingungen des Monsuns vorgegeben. Im Jahresablauf nahm diese intensive Phase der Lehre und Praxis jedoch einen wichtigen Stellenwert ein, denn sie ermöglichte eine Stärkung auf dem buddhistischen Übungsweg.

Es war üblich und auch gern von Buddha gesehen, dass die Laien aus der Umgebung bei den Dharma-Vorträgen anwesend waren und auf diese Weise einen längeren, unmittelbaren und lebendigen Kontakt zu ihm und seinen Schülern aufbauen konnten. Meistens wurde für die Regenzeit ein Ort gewählt, der in der Nähe eines größeren Dorfes oder einer Stadt lag, wo die Mahlzeiten von den Einwohnern am Morgen und Mittag erbettelt werden konnten.

Durch Bodhidharma wurde der indische Buddhismus nach China gebracht, wo man an der Überlieferung eines dreimonatigen Sommer-Retreats festhielt, obgleich die Witterungsbedingungen dies nicht unbedingt erfordert hätten. In China waren viele feste Klöster erbaut worden, die Dôgen auch genau beschrieben und in der gleichen Bauweise in Japan eingeführt hat. Der Sommer war in China zwar heiß und oft schwül, aber doch eine angenehme Jahreszeit, da die Klöster meist in Bergregionen lagen, in denen es im Winter allerdings bitterkalt wurde.

Gegen die Mücken und Moskitos, die im Sommer die Menschen plagten, wurde in der Zazen-Halle an mehreren Stellen Räucherwerk verbrannt, um von Insekten ungestört die vielen Sitzperioden durchführen zu können. Dieses Räucherwerk ist jedoch nicht mit den wohlriechenden Räucherstäbchen der Zeremonien zu verwechseln, die auch vor dem Standbild Buddhas oder eines großen Bodhisattva verbrannt wurden.
Die Mönche hatten in den damaligen Klöstern meist schwere körperliche Arbeit zu leisten, sodass im normalen Alltag außerhalb des Retreats für die Zazen-Praxis und die Dharma-Lehren zwar ein gewisser zeitlicher Rahmen zur Verfügung stand, der aber in die umfangreichen Arbeitsperioden eingegliedert werden musste.

Im Gegensatz dazu stellten die Praxis und Lehre während des Sommer-Retreats den wichtigsten Inhalt des Tages dar. Diese Zeit gab den Praktizierenden einen kräftigen Schub auf dem Weg des Buddha-Dharma. Die Mönche in den Klöstern genossen auf diese Weise erhebliche Privilegien gegenüber den Laien, die überwiegend in der Landwirtschaft und im Handwerk arbeiteten und meistens von morgens früh bis abends spät eingespannt waren.

Von einer 40-Stunden-Woche, die heute in den Industrieländern üblich ist, konnte bei den Laien in China und Japan überhaupt nicht die Rede sein. Daher blieb ihnen wenig Zeit für die buddhistische Lehre und Praxis und nicht zuletzt forderte die schwere Arbeit fast ihre gesamte Lebenskraft und Energie. Am Abend waren sie meist total erschöpft, sodass es sehr schwierig war, vor dem Schlafengehen noch Zazen zu praktizieren.

Dôgen führte die intensiven dreimonatigen Retreats nach seiner Rückkehr aus China auch in Japan ein. In diesem Kapitel beschreibt er ganz genau deren Aufbau und Ablauf. In diesen drei Monaten war das Kloster der einzige Lebens- und Arbeitsraum der Mönche. Wie stehen wir heute zu derartig langen Retreats oder Sesshins? Nishijima Roshi betont, dass es sehr wichtig ist, jeden Tag zweimal Zazen zu praktizieren, und rät uns, jeweils 30 bis 45 Minuten zu sitzen. Diese Zeit konnten die Laien damals in China und Japan gewiss nicht aufbringen.

Gleichwohl misst er den Retreats auch heute noch eine große Bedeutung zu, wenn sie mit der täglichen Praxis und dem Studium der Lehre verbunden werden. Für die meisten von uns wird es allerdings schwierig sein, drei Monate im Jahr aus dem Berufsleben und den Verpflichtungen in der Familie auszusteigen, um sich in dieser Zeit für die Praxis in ein Kloster zurückzuziehen. Daher sind die Retreats heute auf einige Tage oder maximal zwei bis drei Wochen beschränkt. Umso wichtiger ist dementsprechend die tägliche Übungspraxis, damit ein kontinuierlicher Lernprozess stattfindet. In der Dôgen-Sangha dauerte das Retreat des Jahres 2008 im Kloster Tokei-in bei Shizuoka vier Tage.

Es umfasste jeweils sechs Sitzperioden und zwei Dharma-Vorträge pro Tag, einschließlich ausführlicher Diskussion. Die erste Sitzperiode am Morgen und die letzte am Abend dauerten jeweils 45 Minuten; die anderen gliederten sich in zwei Blöcke von jeweils 30 Minuten Zazen-Praxis und 20 Minuten Kinhin-Gehen.
An den Anfang des Kapitels stellt Dôgen folgendes Gedicht von Tendô Nyojô:

„Wir richten unsere Knochen auf dem flachen Boden nach oben aus,
(Jeder von uns) gräbt eine Höhlung im Raum,
Wir gehen direkt durch das Tor des Dualismus hindurch
Und ergreifen den schwarzen Lackkübel, (der ohne Unterscheidung ist).“