Donnerstag, 22. Oktober 2009

Das große Retreat der Sommer-Praxis (Ango), Teil 3

Dôgen zitiert einen alten Text, dem zufolge Gautama Buddha selbst ein Sommer-Retreat von 90 Tagen durchführte, sich aber dabei aus der Gemeinschaft zurückzog, also ein Solo-Retreat abhielt. Er bat seinen Schüler Ananda, das gemeinsame Retreat mit allen Teilnehmern an seiner Stelle in Vertretung zu leiten. Nach Dôgen hat Buddha auf diese Weise ohne Worte und Dharma-Vorträge gelehrt.

Manche leiten daraus ab, dass es grundsätzlich besser sei, während des Retreats überhaupt keine Worte zu verwenden, und dass alle geistigen Aktivitäten für den Buddha-Dharma schädlich seien.

Dôgen hat an anderer Stelle herausgearbeitet, dass es durchaus bestimmte Situationen geben kann, in denen ein Meister den Buddha-Dharma am besten ohne Worte lehrt. Dass man überhaupt keine Worte verwenden dürfe, sei aber nicht richtig und stelle ein tiefgehendes Missverständnis der wahren Absicht Gautama Buddhas dar. Dôgen würde diesen Menschen zurufen:

Gib mir das Sommer-Sitzen von 90 Tagen zurück!“

Er will damit ausdrücken, dass solche Teilnehmer den Wert des Retreats nicht richtig einschätzen können und nicht daran teilnehmen sollten. Laut der Legende hat Buddha zu Ananda gesagt, dass er das Thema lehren solle:

„Alle Dharmas sind jenseits von Erscheinen, alles Dharmas sind jenseits von Vergehen.“

Daraus sei eindeutig ersichtlich, dass während des Sommer-Retreats Lehrreden gehalten werden sollten, und Ananda war in der Tat ein ganz hervorragender Schüler, der später auch der zweite Nachfolger im Dharma von Gautama Buddha wurde. Er hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis für alle Dharma-Reden und war für deren spätere mündliche Fassung und schriftliche Überlieferung von unschätzbarem Wert.

Buddha hatte Ananda bei der Dharma-Rede zu dem genanntem Thema maßgeblich geholfen und ihn unterstützt. Dieses Thema ist für den Buddha-Dharma von größter Bedeutung, da es die lineare Zeitvorstellung überwindet und den Augenblick des Hier und Jetzt, in dem es kein Entstehen und Vergehen gibt, in den Mittelpunkt stellt.

Diejenigen, die am Sommer-Retreat nicht teilnehmen, bezeichnet Dôgen als Nicht-Buddhisten und unterstreicht damit, welch hohen Stellenwert er dem Retreat beimisst. Es sei die höchste Wahrheit von Praxis-und-Erfahrung.

Im Folgenden erteilt Dôgen sehr konkrete Ratschläge und Hinweise für das Sommer-Retreat. Er zitiert einen Meister, der zum Beispiel darum bat, dass die Praktizierenden einen halben Monat vorher in das Kloster kommen sollten, um alle Vorgänge, Rituale, Aufgaben und Arbeiten rechtzeitig und in Ruhe einzuüben, damit während des Retreats keine Hektik und kein Durcheinander entsteht.

Mit Beginn des ersten Übungs-Tages blieben die Mönche beim Retreat in den Mauern des Klosters und verließen es nicht mehr. Meistens wurden dann die Haupttore geschlossen. Dôgen lehnt die Meinung einiger Zeitgenossen ab, dass das 90-Tage-Retreat im Sommer nur eine Angelegenheit des frühen Hînayâna-Buddhismus sei und im Mahâyâna keine Bedeutung mehr habe, denn es gäbe nur einen einzigen authentischen Buddhismus.

Er beschreibt dann, dass der leitende Mönch für jeden einzelnen Teilnehmer eine Tafel vorbereitet, auf der zum Beispiel geschrieben steht, wie häufig der betreffende Mönch bereits an Retreats dieser Art teilgenommen hat. Außerdem schildert Dôgen verschiedene organisatorische Einzelheiten und Formulierungen für die Tafeln und Papier-Aushänge. Dabei werden beispielsweise die Äbte anderer Tempel besonders erwähnt.

Er führt auch ganz genau auf, welche Aufgaben von welchen Verantwortlichen geplant und durchgeführt werden, und wer bei welcher Veranstaltung anwesend sein soll. In ähnlicher Weise stellt er besondere Tage des Retreats vor: So werden die Mönche am 13. Tag nach dem Mittagessen in ihrem Schlafsaal mit Tee und Kuchen bewirtet und rezitieren Sûtras.

Durch diese präzisen Beschreibungen der Einzelheiten und des Ablaufs des Sommer-Retreats hat Dôgen dessen Einführung in Japan exakt festgelegt und überliefert. In den vielen Tempeln, die sich nach seinem Vorbild in Japan entwickelt haben, fand man infolgedessen einen sehr ähnlichen Aufbau und Ablauf vor. Deshalb war es zum Beispiel nicht schwierig, das Kloster für die Teilnahme am Retreat zu wechseln.

Dôgen betont, dass keiner der Mönche zu Überheblichkeit neigen dürfe, sondern seine Übungen und Aufgaben sorgsam und bescheiden durchführen müsse. Dabei solle den Anfängern geholfen werden und keiner solle sich brüsten, dass er selbst fehlerlos sei. Nur in einer Atmosphäre der gegenseitigen Unterstützung, Achtung und Bescheidenheit kann im großen Sommer-Retreat der wahre Buddha-Dharma wirklich erlebt und erfahren werden. Besonders wichtig sind dabei auch die gemeinsamen Rezitationen, die einen Geist der Gemeinsamkeit, der Hochachtung und Wertschätzung der buddhistischen Lehre und der rezitierten Gedichte beinhalten. Es geht, so Dôgen, nicht darum, hart und asketisch zu praktizieren, um in Zukunft die Erleuchtung zu erlangen, sondern darum, richtig Zazen im Augenblick zu praktizieren, denn das ist gerade die Erleuchtung. Aus diesem Grund erklärt er:

„Dem Retreat zu begegnen, ist Buddha zu begegnen. Das Retreat zu erfahren, ist Buddha zu erfahren. Das Retreat zu praktizieren, ist Buddha zu praktizieren. Das Retreat zu hören, ist Buddha zu hören. Das Retreat zu erlernen, ist Buddha zu erlernen.“

Die unmittelbare Erfahrung und Praxis des Sommer-Retreats bedeuten nach Dôgen lebendiges Erleben und Erfahren im Augenblick, wenngleich die äußere Form und Rollenverteilung durch die authentische Übertragung festgelegt sind. Er hält es für sinnvoll, dass die Teilnehmer am Ende des Retreats noch einmal ihre eigenen Fehler bedenken und voreinander offenlegen. Sie bitten damit die anderen um Verzeihung und schaffen die Voraussetzung für den weiteren Lernprozess.
Zum Schluss dieses umfangreichen Kapitels fasst Dôgen zusammen:

„Dies ist die alte Überlieferung, wie wir in den Schätzen von Buddha, Dharma und Sangha verweilen und sie bewahren. Es ist Buddhas (direkte) Lehre und Unterweisung.“