Mittwoch, 24. Juli 2013

Einheit des indischen- und des Zen-Buddhismus


Zweifellos geht es in dem Kapitel „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“ um die Wirklichkeit des Geistes im gegenwärtigen Augenblick, die mit der Buddha-Natur identisch ist: Es geht um die Einheit von Körper-und-Geist.

Im alten Indien gab es beachtliche Strömungen, die sich als Naturalismus bezeichneten und behaupteten, dass man keine Anstrengungen, wie etwa die Meditation des Samādhi, auf sich nehmen müsse, um den Buddhismus und die Erleuchtung zu verwirklichen. Sie behaupteten ferner, dass jedes Handeln ganz natürlich sei und es daher überhaupt keiner Moral im Leben bedürfe. Auch die buddhistischen Gelöbnisse seien daher überflüssig. Nishijima Roshi betont, dass dieses Verständnis ein schwerwiegender Fehler ist, weil dann auch jedes kriminelle Handeln erlaubt wäre, da es „natürlich“ sei.

Es ist sicher nicht besonders schwierig, den Satz „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“ auszusprechen oder zu zitieren und ihn theoretisch und intellektuell zu verstehen, aber dabei handelt es sich nur um dualistisches Denken. Gegenüber dem Verständnis eines vom Körper isolierten Geistes mag dies zwar ein gewisser philosophischer Fortschritt sein und der Wirklichkeit des Lebens und der Welt etwas näher kommen, aber Dōgen gibt sich damit nicht zufrieden. Nach seiner tiefen Erkenntnis, der ich folge, kann man ohne die Zazen-Praxis und ohne das konkrete Handeln im Augenblick nicht wirklich selbst erfahren, was dieser Satz tatsächlich bedeutet. Aber viele Menschen im Osten und im Westen glauben leider fest daran, dass es einen abgrenzbaren Geist gibt, der irgendwie in unserem Körper enthalten ist und sich vom Körper selbst unterscheidet. Dies kommt dem alten indischen Glauben an einen unveränderlichen Seelenkern, Atman, sehr nahe.

Durch die Betonung des Hier und Jetzt weist Dōgen aber auf die ganz konkrete Situation hin und macht klar, dass der Geist überhaupt nicht unabhängig vom Augenblick, von der Zeit und von diesem Ort ist. Damit führt uns der Zen-Buddhismus vom abstrakten theoretischen Denken und vielleicht liebgewordenen Glauben weg zum Hier und Jetzt des Handelns.

„Was jeder Buddha und jeder Vorfahre im Dharma bewahrt haben und worauf sie sich verlassen haben, ist genau und ohne Ausnahme: ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘.“

Mit diesem Satz beschreibt Dōgen die Grundlage aller Buddhas und aller großen Meister im Buddhismus, und er bezeichnet es als grundlegenden Irrtum, zu behaupten, dass diese Wahrheitsaussage im buddhistischen Indien nicht bekannt gewesen und gelehrt worden sei, sondern dass sie erst in China in der Zeit des Zen-Buddhismus herausgearbeitet und gelehrt wurde.

„Viele Schüler verstehen es jedoch falsch (und behaupten), dass ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘ in Indien (noch) nicht existiert habe, sondern zum ersten Mal in China gehört worden sei. Als Ergebnis erkennen sie ihren Irrtum nicht als (wirklichen) Irrtum. Weil sie den Irrtum nicht als Irrtum erkennen, fallen viele Menschen abwärts in den Nicht-Buddhismus.“

Wenn diese Aussage im alten Indien nicht bekannt gewesen wäre, würde das bedeuten, dass es im frühen indischen Buddhismus noch keine Klarheit über den menschlichen Geist gab, sondern eine idealistische und theoretische Vorstellung vorherrschte. Die Dimension des konkreten Hier und Jetzt wäre dann nicht einbezogen worden. Auch Nishijima Roshi zeigt auf, dass diese Ansicht falsch ist, denn damit würde behauptet, dass der Zen-Buddhismus mit dem frühen indischen Buddhismus nicht übereinstimmt und mit der Lehre von Gautama Buddha nicht identisch ist. Wer eine solche Meinung vertritt, ist nach Dōgens Überzeugung daher kein Buddhist:

„Wenn törichte Menschen den Satz ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘ hören, interpretieren sie ihn so, dass der (unterscheidende) Verstand und die Sinneswahrnehmung der gewöhnlichen Menschen, die niemals den Bodhi-Geist (der Wahrheit) erlangt haben, genau Buddha sind.“

Damit teilen sie das Schicksal der Menschen, die die Buddha-Lehre nicht verwirklichen können und deshalb keinen Ausweg in den Wirren des Lebens finden.