Dienstag, 8. Oktober 2013

Das klare Selbst und das Universum sind identisch


Meister Chosa Keichin lebte im 9. Jahrhundert und wurde „Shin, die große Katze“ genannt, weil er einen außerordentlich präzisen und scharfen Geist besaß, der schnell wie ein Tiger war. Zweifellos war er ein großer Zen-Meister, der hervorragende geistige Klarheit und denkerische Fähigkeiten besaß, aber sich niemals in sinnlosen Theorien verstrickte oder der niemals mit seinem Wissen aus den buddhistischen Schriften prahlte.

Bei ihm war Denken und Handeln eine Einheit voller Klarheit. Von ihm ist ein bedeutendes Gedicht überliefert, das Dōgen hier zitiert:

„Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist das Auge des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist die tägliche Sprache des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist der ganze Körper des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist die strahlende Klarheit des Selbst.“

Nach der alten indischen Lehre besaßen das Universum und die Welt zehn konkrete Himmelsrichtungen. Sie stehen für ein ganz konkretes, realitätsnahes Bewusstsein und Verhalten in dieser Welt und im Universum. Mit dem Auge sind die sinnliche Wahrnehmung und vor allem das Sehen angesprochen. In der zweiten Zeile geht es um die klare und eindeutige Sprache der Buddhisten, die eine Verwirklichung der Welt und des Universums als Realität ist. Die Sprache und das Reden sind dabei keine Schein-Wirklichkeiten, die den Zuhörern vorgegaukelt werden und den Bezug zur Wirklichkeit und ethischen Klarheit verloren haben.

In der dritten Zeile geht es um die Form und den Körper, die ebenfalls zur leuchtenden Klarheit gehören. Ein abgehobener, angeblich klarer Geist, der ohne Körper auskommt, wird damit kategorisch ausgeschlossen. Wer intuitive Klarheit besitzt, hat auch eine klare Körperlichkeit und klare Gefühle: der Körper wird im Buddhismus nicht abgewertet.

In der letzten Zeile führt Meister Keichin das Selbst des Menschen auf, das sich radikal von einem abgegrenzten Ego des Egoisten unterscheidet, denn dieses hat weder die Klarheit über sich selbst, noch über die Welt oder über andere Menschen. Besonders ehrgeizige Ziele des Egoisten führen häufig dazu, dass der Mensch sich geistig verbarrikadiert und den realen Bezug zu anderen Menschen, zur Umwelt und zu sich selbst verliert. Dies kann bei Egoisten für die Dominanz des eigenen Körpers der Fall sein, zum Beispiel wegen dessen angeblicher oder wirklicher Schönheit oder Attraktivität. Es kann sich auch um geistigen Hochmut oder angebliche rhetorische Überlegenheit handeln. Für Egoisten gibt es kein offenes Selbst, das die eigenen engen Grenzen überschreitet und die Dualität von Subjekt und Objekt auflöst.

Die zehn Himmelsrichtungen werden in diesem Gedicht mit diesem offenen Selbst in strahlender Klarheit gleichgesetzt. Das wahre Selbst hat die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden und sich zum ganzen Universum hin geöffnet. Es bildet eine großartige Einheit mit ihm. Bei dieser Öffnung entsteht laut Meister Keichin die strahlende Klarheit. Dieses so verstandene Selbst ist in allen Menschen ausnahmslos vorhanden und wirksam, es ist die Buddha-Natur.

Genau in diesem Sinne verstehe ich die häufig missverstandene Ich-Losigkeit, die im Buddhismus gelehrt wird. Es ist unsinnig zu behaupten, dass die Wirklichkeit des Körpers, der Gefühle und des Handelns nicht vorhanden wäre. Entscheidend ist, ob es sich um ein unklares und daher abgegrenztes Ego handelt, also um einen mehr oder weniger krankhaften Ich-Bezug und die übertriebene Zentrierung auf sich selbst.

Das ist das Gegenteil eines offenen Selbst, das Joanna Macy aufgrund ihrer langen Erfahrungen im Umgang mit vielfältigen und nicht zuletzt psychischen Leiden ihrer Schülerinnen und Schüler beschreibt. Wer sich hinter seinen engen Ich-Grenzen verbarrikadiert, verliert seine Lebendigkeit, Kreativität und Lebensfreude – und die lebende Verbindung zur Umwelt sowie zu anderen Menschen.

Bei ihm gibt es kein Fließen mehr. In Bezug auf die Dynamik der Psyche möchte ich nach Freud hinzufügen, dass eine derartige Abgrenzung und Verdrängungsleistung erhebliche Energien des Menschen verbraucht, die dann für andere Aufgaben und Lebensbereiche nicht mehr zur Verfügung stehen.

Verdrängungen sind keine optimalen Lösungen psychischer Probleme; sie ermöglichen zwar ein minimales Überleben im Alltag, sind aber doch psychische Krankheiten  und müssen zum Beispiel zusammen mit einem Therapeuten aufgearbeitet werden. Nicht zuletzt blockieren sie die wichtigen Lernprozesse der verschieden Lebensphasen: Buddhas Achtfacher Pfad zur Überwindung des Leiden ist dann verschlossen.