Donnerstag, 25. September 2014

Die Stacheln der Wasserkastanie: Symbole für die reinen Augenblicke



Was ist „der nackte, reine Geist, Augenblick für Augenblick“?,

fragt Dōgen. Das entsprechende japanische Wort seki, das ich mit „nackt“ und „rein“ übersetzt habe, soll den direkten Augenblick in der Gegenwart treffend bezeichnen. Es geht dabei nicht um Vorstellungen und Ideen über den Augenblick, sondern um die Wirklichkeit selbst, Augenblick nach Augenblick. Das heißt auch, dass im Augenblick nichts verdeckt oder weggelassen und nichts hinzu fantasiert wird.

Die Rundheit des Mondes ist im Zen-Buddhismus häufig ein Symbol für die Erleuchtung, also für den Wahrheitsgeist. Auch die runden Blätter des Lotos und die im alten China gebräuchlichen runden Spiegel aus fein poliertem Metall sind von der Sein-Zeit des Augenblicks nicht zu trennen. Gleiches gilt für den reinen Geist, Augenblick für Augenblick.

Dōgen erwähnt in diesem Zusammenhang die Wasserkastanie, wobei deren einzelne Stacheln als Symbol für die Augenblicke stehen. Er spricht davon, dass die spitzen Stacheln gleichzeitig wie ein Bohrer wirken. Ich interpretiere diese Aussage so, dass die Stacheln zum Kern des reinen und bloßen Geistes vordringen können und damit Fantasievorstellungen und theoretische Abstraktionen durchstoßen. Dōgen verwendet also die Rundheit und die Spitzigkeit als Symbole für den Geist in der Sein-Zeit.

Im existenziellen und spirituellen Bereich kann es keine Dinge und Phänomene geben, die unabhängig von der Sein-Zeit sind. Nur im Augenblick gibt es die Wirklichkeit, die frei von Illusionen, emotionalen Bewertungen und Verzerrungen durch Affekte ist. Dies ist der „nackte Geist“ der nackten Wahrheit.

Dōgen erwähnt dann das Zen-Zitat „Der Geist der ewigen Buddhas“ und verbindet es mit dem Kōan-Gespräch des großen Meisters Daisho, der von einem Mönch gefragt wurde:

Was ist der Geist der ewigen Buddhas?“
Der Meister gibt eine wirklich verblüffende Antwort:

„Hecken, Mauern, Ziegel und Kieselsteine.“

Diese Dinge dürfen wir jedoch nicht materialistisch verstehen, weil damit die Verbindung zu dem Geist der großen Meister verloren ginge. Genauso falsch wäre es, sich in abstrakten Theorien darüber zu verlieren, was der Geist der großen Meister sei. Um auf die konkrete Welt hier und jetzt zurückzukommen und den Mönch von unnützen Spekulationen seines „Denk-Käfigs“ wegzubringen, antwortet daher der Meister mit der Aufzählung der Hecken, Mauern, Ziegel und Kieselsteine, denn sie bilden mit dem wahren Geist, den Dōgen meint, eine unauflösbare Einheit.

Eine abstrakte Welt der Urideen, die losgelöst von der materiellen Wirklichkeit der Welt existieren, wie der griechische Philosoph Platon gelehrt hat, ist daher im Zen-Buddhismus völlig unsinnig und gehört in den Bereich der Spekulationen. Gerade die Vorstellungen vom Geist der großen Meister können leicht zu idealisierenden und utopischen Konstrukten führen.


Dem will Dōgen hier konsequent einen Riegel vorschieben.