Freitag, 15. April 2016

Buddhismus als Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens

(Nishijima Roshi)

In der schwierigen Situation der Gegenwart möchte ich anregen, dass wir auf den Buddhismus schauen. Er ist keine der bekannten rein spirituellen Religionen und auch kein materialistisches System. Buddhismus ist eine Lebensweise, die auf dem Handeln basiert.

Die Haupt-Charakteristik der buddhistischen Philosophie besteht darin, dass sie auf der wahren Natur des Handelns selbst beruht. Und das ist identisch mit der Verwirklichung der Buddha-Natur, die weder idealistisch noch materialistisch ist.

Im Folgenden möchte ich aufzeigen, warum der Buddhismus wichtige Impulse für zukünftige Glaubenssysteme dieser Welt geben kann. Als ich ein Student von 17 oder 18 Jahren war, faszinierte mich ein Buch mit dem Titel Shôbôgenzô. Ein buddhistischer Mönch, Meister Dôgen, hatte es im 13. Jahrhundert verfasst.

 Für mehr als 50 Jahre beschäftigte ich mich mit diesem großen Werk, habe es in modernes Japanisch übersetzt und wieder und wieder studiert. Indem ich es immer wieder durcharbeitete, gewann ich Klarheit über seine Bedeutung. Über sechstausend Mal und an vielen Orten habe ich über das Shôbôgenzô gelehrt.

Diese lang andauernde, intensive Beschäftigung hat mich dazu geführt, ganz klar zu erkennen, dass das, was Meister Dôgen im Shôbôgenzô unternimmt, die Erklärung der Natur der Wirklichkeit ist. Seine tiefgründigen Überlegungen konzentrieren sich auf die Natur des Handelns. Das Kriterium für das wahre Leben, das Dôgen erklärt, beruht nicht auf spirituellem Glauben oder materiellen „Tatsachen“, sondern konsequent auf unserem Handeln. Dieses Kriterium kann die Grundlage für eine neue Sicht der Welt bilden, eine neue tragfähige Philosophie für die Zukunft.

Zu dieser Überzeugung bin ich folgendermaßen gekommen: In einem Kapitel im Shôbôgenzô über das tägliche Leben (Kajô)[i] zitiert Meister Dôgen seinen eigenen chinesischen Meister Tendô Nyojô:

„Die goldene und strahlende Form ist, gekleidet zu werden und Mahlzeiten zu essen.“

Die Formulierung „goldene und strahlende Form“ bezieht sich hier auf die Figur Gautama Buddhas selbst, von dem man sagt, dass ihn eine goldene Aura umgibt. Tendô Nyojôs Worte bedeuten, dass unser tägliches Handeln, also zum Beispiel zu essen und sich anzuziehen, den goldenen Glanz Buddhas beinhaltet; diese täglichen Handlungen leuchten aus sich selbst heraus.

Diese klare Aussage enthält die Essenz des Buddhismus, die sich direkt auf unser reales Handeln im Alltag bezieht. Handlungen formen das wirkliche Zentrum unserer wahren Existenz.

Ein anderes wichtiges Kapitel im Shôbôgenzô heißt Jinzû oder auf Deutsch „Die mystischen Kräfte“[ii]. Es untersucht die Wirklichkeit der besonderen Kräfte, welche die Menschen durch das buddhistische Training erlangen. Meister Dôgen zitiert darin einen Chinesen mit dem Namen Ho-on, der Laie war und den Buddhismus studierte, während er in der sozialen Gesellschaft arbeitete:

„Die mystische Kraft und wundersame Funktion, Wasser zu schöpfen und Feuerholz zu tragen.“

Dieser Vers besagt, dass die buddhistische Bedeutung der mystischen Kraft und wundersamen Funktion in dem enthalten ist, was damals zum täglichen Handeln gehörte, nämlich Wasser zu holen und Feuerholz zu tragen – Wasser zum Trinken und zum Kochen, Feuerholz fürs Kochen und Heizen.

Was ist mystisch und wunderbar bei diesen Aktivitäten? Sie geben uns tatsächlich das Leben – sie sind unser Leben selbst. Wenn wir den Buddhismus auf diese Weise betrachten, können wir sehen, dass er keine Religion ist, die auf etwas beruht, das wir nur in unserem Geist erzeugen. Er ist eine Religion, die uns klar lehrt, wie wir unser Leben Tag für Tag führen können.






[i] Kap. 64, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 53 ff.: „Der Alltag im Hier und Jetzt (Kajô)“
[ii] Kap. 25, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 221 ff.: „Die mystische Kraft des Lebens und Universums (Jinzû)“