Freitag, 20. Oktober 2017

Die wahre Natur des Menschen sehen



Wer auf dem Weg ist, die wahre NATUR des Menschen, also die Buddha-Natur, zu sehen, reduziert sich nicht allein auf die äußere Form. Gerade in Familien und in der Partnerschaft sollten wir auf Feinheiten im Ausdruck des Gesichts und auf die ganze Körpersprache achten. Wie verändert sich die Sprache des Gesichts und des Körpers in Wechselwirkung mit unseren eigene Worten und unserer Tonlage? Machen wir, dass sich ein Lächeln zeigt, das uns mehr über den inneren Prozess beim anderen sagt, als der formale Inhalt des Gespräches? Und: Die wahre Natur ist keine Erinnerung und keine Erwartung, denn beides ist recht unzuverlässig, sondern genau dasjenige, was im AUGENBLICK da ist. Diese tiefe Weisheit des Zen wird von der modernen Gehirnforschung voll bestätigt.

Laut Nishijima und Cross unterscheidet Dôgen zwei verschiedene Arten des Sehens.[i] Zum einen geht es um das materielle Sehen der äußeren Form, also um eine oft eingeengte Dimension der Wahrnehmung mit den Augen. Zum anderen ist das intuitive, umfassende Sehen und Schauen gemeint, das für den Lernprozess und die Erfahrung der Buddha-Natur maßgeblich ist.

Dôgen untersucht Nâgârjunas Lehre mit großer Sorgfalt. Er beginnt damit, dass der Körper die Rundheit des Mondes manifestiert und die Physis der Buddhas damit zeigt. Er interpretiert die Physis und Rundheit des Mondes also sehr konkret als Form und nimmt damit Abstand von einer esoterischen und nicht-körperlichen Erklärung. Auch diese Rundheit will genau beobachtet sein!

Nishijima und Cross erläutern, dass Nâgârjuna aber von seinem Körper-und-Geist redet, der ganz konkrete Eigenschaften habe, aber gleichzeitig eine ungeteilte Ganzheit mit dem Universum sei.[ii] Es geht also um die spirituelle und konkrete umfassende Ganzheit.

Dôgen grenzt sich konsequent von jenen ab, denen der eigene Körper fremd geworden ist. Sie seien nicht nur ignorant gegenüber der Rundheit des Mondes, sondern auch gegenüber der Physis der Buddhas. Insbesondere kritisiert er törichte Menschen, welche

die Rundheit des Mondes als die Manifestation eines fantastisch transformierten (übernatürlichen!) Körpers“

bezeichnen. Solche Versionen gibt es auch heute bei manchen buddhistischen Lehrern. Das führt aber von der klaren Wirklichkeit fort in die spekulative Scheinwelten der Illusionen und gibt falschen Heiligen den angestrebten Raum für Macht und Missbrauch. Dies ist nach Dôgen eine völlig abwegige Idee derjenigen, die keine authentische Übertragung von Buddhas Wahrheit empfangen hätten.

An welchem Ort und in welchem Augenblick mag es eine andere Manifestation eines ganz anderen Körpers geben?“,

fragt er und erklärt, Nâgârjuna habe ganz einfach wie jeder andere Mensch auf seinem Sitz gesessen. Er habe sich als Meister ganz konkret manifestiert, jenseits von diffusen Begriffen oder Vorstellungen wie Existenz und Nicht-Existenz oder von Unsichtbarkeit oder Sichtbarkeit:

„Es ist genau der Körper, der sich genau (und umfassend) manifestiert.“

Anschließend führt Dôgen aus, dass die Rundheit des Mondes symbolisch für die Erleuchtung und die Buddha-Natur steht:

„Dieser Ort ist der Ort, wo etwas Unfassbares da ist. Erkläre es (wenn du willst) als fein, oder erkläre es als grob.“ 





[i] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 16, Fußnote 71
[ii] ebd., Fußnote 72